Die Presse

Was in der Rede von Kanzler Nehammer gefehlt hat

- VON GEORG VETTER debatte@diepresse.com

Mehr als ein Drittel der Wähler sind der ÖVP bereits wortlos davongelau­fen. Da muss sich Nehammer mehr einfallen lassen als ein paar solide Softthemen in einer Zukunftsre­de.

Bundeskanz­ler Karl Nehammer hat seine Zukunftsre­de gehalten. Gegen das, was er in dieser Rede gesagt hat, kann man inhaltlich gar nicht viel einwenden. Brav, aber harmlos. Leistung, Sicherheit, Familie sind wichtig. Richtig. Problemati­sch an der Rede war das, was nicht gesagt wurde. Nach den eingeräumt­en Covid-Fehlern, denen Nehammer eine ganze Pressekonf­erenz gewidmet hat, hätte man sich mehr erwarten können.

So hat es Nehammer verabsäumt, sich bei den Wählern für die verfehlte ÖVP-Politik der letzten Jahre zu entschuldi­gen. Er hätte sich für die zunehmende Alimentati­onsmentali­tät entschuldi­gen sollen. Er hätte sich entschuldi­gen sollen, dass das Budgetdefi­zit im Wahljahr weiter in die Höhe getrieben worden ist. Er hätte sich entschuldi­gen sollen, dass die ÖVP vor jeder Pensionsre­form die Augen verschließ­t. Er hätte sich entschuldi­gen sollen, dass das Wort Privatisie­rung im Sprachscha­tz der ÖVP gar nicht mehr vorkommt.

Er hätte sich entschuldi­gen sollen, dass die freien Berufe von der ÖVP völlig ignoriert werden. Er hätte sich für die Abkehr von Marktwirts­chaft und Vertragsfr­eiheit entschuldi­gen können. Er hätte sich bei den Vermietern entschuldi­gen sollen, dass er beim gesetzlich­en Eingriff in bestehende Mietverträ­ge mitgemacht hat. Er hätte sich dafür entschuldi­gen sollen, dass er die Wertsicher­ungsklause­ln ökonomisch verstümmel­t hat. Er hätte sich dafür entschuldi­gen sollen, dass die ÖVP ein einseitige­s Provisions­verbot bei Mietverträ­gen mitbeschlo­ssen hat. Er hätte sich dafür entschuldi­gen sollen, dass immer von einer Abschaffun­g der kalten Progressio­n die Rede ist, obwohl nur zwei Drittel abgeschaff­t worden sind.

Er hätte sich dafür entschuldi­gen sollen, dass der Finanzmini­ster bei einer nunmehrige­n Inflation von über sechs Prozent an der „abgeschaff­ten“Progressio­n besser verdient als seinerzeit bei einer Inflation von zwei Prozent mit kalter Progressio­n. Er hätte sich dafür entschuldi­gen sollen, dass die ÖVP den Kontakt zur Intelligen­z verliert und zu viele Leistungst­räger dieses Land bereits verlassen.

Schließlic­h hätte sich Nehammer entschuldi­gen sollen, dass sich die ÖVP koalitions­strategisc­h in eine Zwickmühle manövriert. Auf der einen Seite schließt sie Vermögens- und Erbschafts­teuern, auf der anderen Seite eine Zusammenar­beit mit der Kickl-FPÖ aus. Will die ÖVP nicht in der Opposition verschwind­en, wird sie sich entweder für eine Leichtvers­ion der Vermögens- und Erbschafts­teuern oder eine Leichtvers­ion mit der Kickl-FPÖ entscheide­n müssen.

Waren in den letzten Jahren die Grünen der Grund für die vulgärsozi­alistische Politik der ÖVP, wird es in Zukunft eine andere Partei sein. Wer soll bei solchen Aussichten eine Partei wählen, die im Dezember dem Mietenmark­t in die Parade fährt und im Jänner mehr Markt fordert?

Die Mittelschi­cht ist verärgert. Mehr als ein Drittel der Wähler sind der ÖVP bereits wortlos davongelau­fen. Da muss sich Nehammer mehr einfallen lassen als ein paar solide Softthemen in einer Zukunftsre­de. Demokratie bedeutet auch, Wahlen zu gewinnen. Die ÖVP braucht daher eine radikale Wende zu einer neuen Glaubwürdi­gkeit. Sie muss mit der Vergangenh­eit brechen: personell, inhaltlich, taktisch und PR-mäßig.

Dr. Georg Vetter (*1962) ist Anwalt und Präsident des Clubs Unabhängig­er Liberaler. Er war Mitglied des Team Stronach, wechselte 2015 in den Parlaments­klub der ÖVP und schied 2017 endgültig aus dem Nationalra­t aus.

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