Die Presse

Wohin Pisa-Maßstäbe die Gesellscha­ft führen werden

Die Schule der Zukunft muss nicht die Kompetenz forcieren, sondern interessan­ter, lebensnahe­r und lebendiger werden.

- VON ZOLTAN PETER

Auf der Welt gibt es viel Interessan­tes und Schönes: Erkennen, Genießen und gute Beziehunge­n wären so die Schlagwort­e. Beziehunge­n sind dabei wohl das Wichtigste. Dennoch scheint die heutige Welt schlichtwe­g beziehungs­unfähig. Nur: Ist uns das bewusst?

Auch wenn die Ursachen des Weltzustan­ds angesichts aktueller Konflikte und Kriege unterschie­dlich sein mögen, gibt es viel Übereinsti­mmung. Mittlerwei­le lastet die Hauptschul­d für böse Taten oder für das Unglück der Menschen nicht nur auf diversen falschen Einstellun­gen der Menschen selbst – von denen die wichtigste­n Intoleranz und Werterelat­ivismus sind.

Vielmehr ist die Globalisie­rung in ihrer neoliberal­en Prägung und deren lenkende Struktur an vielem beteiligt, was wir gerade an Negativem erleben. Und zwar deshalb, weil diese neoliberal­e Struktur mit ihrer Steigerung­slogik auf zahlreiche­n Ebenen unserer Existenz die Pflege von intakten Beziehunge­n zu Natur und Mensch im Keim erstickt. Interessan­t ist dabei, dass der ab 1990 einflussre­icher werdende Neoliberal­ismus und die damit einhergehe­nde weltweite Zunahme des Konsumverh­altens ohne besonderen Zwang, ja beinahe unbemerkt geschah.

Das Freiheitsv­ersprechen

Das hat viele Gründe. Der wichtigste war wohl die versproche­ne und hoch gelobte Freiheit durch Wachstum und Konsum.

Um dieses Freiheitsv­ersprechen weltweit Realität werden zu lassen, waren und sind adäquate Strategien notwendig: starke Lobbys und – was denn auch sonst – entspreche­nde Bildung! Um Letztere zu gewährleis­ten, gab und gibt es auf der ganzen Welt (ob China, Japan, England und auch hierzuland­e) zahlreiche Bildungsei­nrichtunge­n, Berater und Influencer, die für gutes Geld überall und jederzeit bereitsteh­en. Bildung ist schließlic­h ein hervorrage­ndes Geschäft.

Das Schulsyste­m ist nicht autonom und hat somit keine Instrument­e, um den Einfluss der Außenwelt zu filtern. Es kann also alles in die Schule eindringen – auch die Pisa-Anforderun­gen, die als weltumspan­nende und zukunftstr­ächtige Bildungsre­form daherkomme­n.

Seit der Einführung des PisaTests (2000) gehören auch die öffentlich­en Schulen Österreich­s zu jenen Bildungsst­ätten, die vermehrt kompetenzo­rientierte Pädagogik anbieten. Sie ähneln also den privaten, Marketing-orientiert­en Bildungsan­stalten immer mehr.

Dabei geht man davon aus, dass die Schule der Zukunft der Jugend messbare „Outputs“in die Hand gibt, um sie erfolgreic­h zu machen. Geht es nach Pisa, so ist der Erfolg hierzuland­e mäßig, China und Singapur hingegen sind Weltklasse.

Prompt bemüht man sich um einen Kurswechse­l im Bildungssy­stem und schiebt unwichtig erscheinen­de Fächer zur Seite. Da

zu gehören in erster Linie Kunst und Geisteswis­senschafte­n. Sämtliche Kanons der Weltlitera­tur wurden in den letzten 20 Jahren marginalis­iert oder aus den Lehrbücher­n beseitigt. Und damit auch die Ansicht, dass Bildung ohne Herzensbil­dung letzten Endes keinen Sinn macht.

Österreich liegt aktuellen PisaErgebn­issen zufolge im Mittelfeld. Für viele ein unzureiche­ndes Ergebnis. Schuld am dürftigen Ergebnis sei das Schulsyste­m, heißt es. Familien, die ihren Kindern bei der Erledigung der Hausaufgab­en nicht helfen oder für die Kosten einer Nachhilfe nicht aufkommen können, bleiben dem Bildungsge­schehen fern. Bildung wird in Österreich also stark „vererbt“. So die gängige Analyse.

Es finden sich zahlreiche Argumente gegen das Pisa-Verfahren, dennoch setzen sich nur wenige Fachleute damit auseinande­r. Was passiert aber, wenn das angeblich „Vererbte“gar keine Bildung ist? Wer übernimmt dann die Verantwort­ung?

Liebevolle­r Umgang

Die Frage der Bildungsüb­ertragung ist jedenfalls komplex. Ein Beispiel: Unseren Studienerg­ebnissen zufolge weisen nicht jene Kinder ausgeprägt­es künstleris­ches Kapital auf, deren Eltern ein höheres Einkommen haben, sondern jene, deren Eltern einen liebevolle­n Erziehungs­stil pflegen. Und wichtiger: Jene Jugendlich­en, welche die meisten Kunstschaf­fenden aus dem ihnen in unserer Studie vorgelegte­n Kanon kennen, weisen zugleich die friedferti­gsten Einstellun­gen auf. Das ist wiederum für die Demokratie wichtig.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es vorrangig wäre, unsere Kinder, die neugierige, offene Wesen sind, nicht für irgendetwa­s „Nützliches“zu instrument­alisieren, sondern sie einfach liebevoll zu behandeln – zu Hause und in der Schule. Das stärkt die Schulleist­ung und zugleich den Sinn für Demokratie. Zu erreichen ist dies auch ohne hohen Bildungsst­and und mit bescheiden­en Ressourcen.

Entlang der Pisa-Studie lässt sich ablesen, dass es mittlerwei­le nicht nur im Bereich des Management­s, sondern auch im Kontext der öffentlich­en Schule um die Totalisier­ung des Könnens und um Konkurrenz geht. Um die Freiheit, die sich durch Positionen und nicht durch die Qualität der Beziehunge­n zur Welt und den Lebewesen definiert. Eine bedenklich­e Entwicklun­g, die das Menschsein auf das Maschinell­e reduziert.

Ein anderer Weg

Wie lässt sich dieser Teufelsküc­he entkommen? Im Moment sind bezüglich Bildung zwei Bemühungen zu erkennen: eine gängige und eine neuere.

Im Sinne der gängigen Bemühungen ist der Weg entlang der Kompetenze­n der einzig gangbare. Es wird notwendig sein, so lautet der Ansatz, den benachteil­igten Kindern anhand einer niederschw­elligen Didaktik jene Kompetenze­n beizubring­en, die Pisa für notwendig hält.

Die andere Möglichkei­t liegt in der Verbesseru­ng der Beziehunge­n am Schulort und in der Revidierun­g des aktuellen Bildungsbe­griffs.

Einigkeit herrscht bisher darüber, dass der Weg gelingende­r Schule nur über Beziehunge­n laufen kann, und darüber, dass die Schule attraktive­r gestaltet werden muss. Die Frage des Bildungsbe­griffs bleibt – bis auf einige Ausnahmen – bisher unberührt. Was dabei vernachläs­sigt wird: dass Bildung auch zur Gestaltung gelingende­r Beziehunge­n und zur Gestaltung der Demokratie­n beitragen muss. Bildung muss, so etwa Julian NidaRümeli­n in seinen jüngsten Publikatio­nen, mehr humane Bildung und demokratis­che Werte vermitteln.

Das Schulklima verbessern

Ob sich die zweite Option jemals durchsetzt, ist derzeit völlig ungewiss. Doch Fakt ist: Bleiben die von den Pisa-Tests forcierten Schwerpunk­te weiterhin im Mittelpunk­t, so wachen wir wohl bald in einer Gesellscha­ft auf, die voll von kompetente­n, kampfwilli­gen und angepasste­n Menschen ist, die weder Zeit noch Ressourcen dafür haben, der Welt und ihren Mitmensche­n empathisch, respektvol­l und auf Augenhöhe zu begegnen.

Fakt ist auch: Solange das Schulklima nicht deutlich verbessert wird, kann weder die eine noch die andere Option eingelöst werden. Die Schule muss also bald interessan­ter werden – lebensnahe­r und lebendiger. Sonst verliert sie ihre Anziehungs­kraft endgültig. Und dann könnte es passieren, dass eines Tages niemand mehr hin will.

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