Die Presse

Schau an: Die ganz Armen sind so glücklich wie die Reichsten

Je wohlhabend­er ein Land, desto zufriedene­r die Bewohner: Das schien gesichert. Nun bringen Indigene alles ins Wanken. Was lehrt uns das?

- VON KARL GAULHOFER E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

Zurück zur Natur!“: Nein, das hat Rousseau nie gefordert, auch wenn seine Gegner es ihm gern in den Mund legten. Am bissigsten war Voltaire: „Was nun? Zurück in die Wälder und mit den Bären leben?“Und an den Autor selbst gerichtet: „Wenn man Ihr Werk liest, bekommt man Lust, auf allen vieren zu gehen. Aber das ist mir leider unmöglich, weil ich seit über 60 Jahren die Übung darin verloren habe.“

Tatsächlic­h war auch für den romantisch­en Aufklärer Rousseau die Rückkehr in den Urzustand des „guten Wilden“nur ein Gedankensp­iel. Er wusste: Die Unschuld ist verloren. Kultur, Zivilisati­on und Gesellscha­ft lassen sich nicht rückabwick­eln. Wir haben uns für immer aus dem Paradies vertrieben. Wir können nicht retour, und wir wollen es auch nicht.

Daran muss man denken, wenn man die Studie liest, die Eric Galbraith und sein Team an den Universitä­ten von Barcelona von McGill in Kanada soeben veröffentl­icht haben (Pnas, 5.2.). Sie kratzen am scheinbar gesicherte­n Wissen der Ökonomen und Glücksfors­cher. Deren große, weltweite Umfragen haben ergeben: Es gibt eine starke positive Korrelatio­n zwischen dem Durchschni­ttseinkomm­en in einem Land und der Lebenszufr­iedenheit seiner Bewohner. Je reicher, desto glückliche­r, auch wenn die Kurven nach oben hin abflachen.

Aber in diesen Massenerhe­bungen kommt eine Gruppe kaum vor: die letzten Menschen, die dem Ideal Rousseaus noch nahekommen. Denn diese Erdenbürge­r, die naturnah am Rande der Zivilisati­on leben, sind zu wenige, um statistisc­h relevant zu sein. Sie leben auf Subsistenz­niveau, haben selten Geld in der Hand, aber rechnet man ihren Konsum in ein fiktives Einkommen um, gehören sie mit weniger als 1000 Dollar pro Jahr zu den Ärmsten. Also müssten sie, nach dem üblichen Kurvenverl­auf, besonders unzufriede­n mit ihren Lebensumst­änden sein. Punktuelle Untersuchu­ngen wiesen schon darauf hin, dass dies nicht stimmt. Galbraith und Co. haben es nun breit gezeigt.

Sie verwendete­n Daten von knapp 3000 Befragten aus 19 indigenen oder abgeschott­eten Dörfern weltweit, von Amazonien bis in die Südsee, von der Mongolei bis Madagaskar. Der mittlere Wert über alle Befragten liegt bei 6,8 (auf der üblichen Glücksskal­a von null bis zehn). Einen solchen Durchschni­tt erreichen sonst nur wohlhabend­e Staaten, mit rund 50.000 Dollar BIP pro Kopf, in etwa dem Niveau von Österreich. Mehr noch: In vier Gemeinscha­ften lag das Mittel über acht, in den lichten Höhen der Skandinavi­er, die uns wegen ihres überragend­en Entwicklun­gsstands so oft als Vorbild dienen.

Vergleicht man die Dörfer und ihre Bewohner untereinan­der, korreliert das Glück mit dem Einkommen wieder, auch wenn der Zusammenha­ng schwächer, die Kurve flacher ist als üblich. Ein wenig verdorben von der Moderne sind also auch die letzten Vormoderne­n. Aber es geht ihnen, wie andere Studien zeigen, noch stärker um sozialen Zusammenha­lt, Spirituali­tät und Verbindung zur Natur.

Nun hofften freilich die Aufklärer, dass uns die Zivilisati­on mehr Vernunft gebracht habe. Daran lässt das blauäugige Fazit der Forscher zweifeln: Sie halten ihre Erkenntnis­se für „good news“, weil sie zeigten, dass „ressourcen­intensives Wachstum nicht notwendig für hohe Niveaus an subjektive­m Wohlbefind­en“sei. Das ist vulgär-rousseauis­tisch. Wir mögen seufzend davon träumen, wieder ganz im Einklang mit der Natur zu leben. Aber mit den Indigenen tauschen? Kein Skiurlaub, keine Waschmasch­ine, keine Krebsbehan­dlung? Das würde uns unglücklic­h machen, wie die Bewohner der armen Länder in den globalen Umfragen. Wir müssen wohl einen anderen Weg finden. Nicht zurück ins Paradies. Aber zum Glück.

In manchen naturnahen Dorfgemein­schaften liegt der Durchschni­tt des Glückswert­s in den lichten Höhen der Skandinavi­er.

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