Die Presse

Jüdische Rezepte zur Heilung der Welt

„Who Cares?“im Jüdischen Museum zeigt, wie das Gebot der Nächstenli­ebe im Judentum praktisch befolgt wurde und wird. Eine reiche Schau mit viel Medizin, aber auch Kunst und Psychoanal­yse. Inklusive Sigmund Freuds Hut.

- VON THOMAS KRAMAR

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: Das Gebot der Nächstenli­ebe wird oft als spezifisch christlich verstanden, das stimmt nicht. Es ist aus dem dritten Buch Mose, in dem die Gebote und Verbote für das Volk Israel stehen, im Markusevan­gelium zitiert es der jüdische Prediger Jesus. Ein halbes Jahrhunder­t später prägten andere Rabbiner das Prinzip „Tikun Olam“, was man als Verbesseru­ng und Vervollkom­mnung der Welt übersetzen kann, oder auch als Heilung. Dieser Imperativ, der nicht zufällig dem Popsong-Titel „Heal the World“entspricht, ist im Grunde das Motto der aktuellen Ausstellun­g im Jüdischen Museum (bis 1. 9.).

Die Kuratoren Caitlin Gura und Marcus Patka haben sich stattdesse­n für „Who Cares?“entschiede­n, was an den christlich­en Begriff „Caritas“anklingt. Passt auch – und illustrier­t, wie freimütig die Schau zwischen spezifisch Jüdischem und Allgemeing­ültigem springt. Bis hin zu dem logischen Schlusspun­kt: 13 Spendenbox­en, darunter drei für genuin jüdische Organisati­onen wie das Psychosozi­ale Zentrum der Israelitis­chen Kultusgeme­inde (IKG) sowie zehn andere, von Amnesty Internatio­nal über SOS Kinderdorf bis zur – quasi urtümlich jüdisch benannten – Arche Noah, die sich für den Erhalt von Kulturpfla­nzen einsetzt.

Soziales von Maimonides bis Tandler

Unterschie­dlichste Formen der Wohltätigk­eit also. Oder, um es mit dem hebräische­n Begriff zu sagen, der Zedaka, verwandt mit dem Wort „Zadik“, der Gerechte. Zedaka soll die Welt gerechter machen, sie geht über individuel­les, spontanes Helfen hinaus, impliziert geradezu Institutio­nalisierun­g, bis hin zur Sozialpoli­tik. Schon der jüdische Philosoph Moses Maimonides (1135–1204) – nach dem das heutige jüdische Seniorenhe­im im Wien benannt ist – schrieb, er kenne keine Gemeinde ohne Wohltätigk­eitskassa. In dieser Tradition steht letztlich auch das „geschlosse­ne System der Fürsorge“, das der jüdische Mediziner Julius Tandler im Wien der Ersten Republik etabliert hat.

Dass die Unordnung, die Heilungsbe­dürftigkei­t der Welt, durchaus nicht nur aus menschlich­er Ungerechti­gkeit entstanden ist, illustrier­en im ersten Raum der Ausstellun­g unter anderem die traumatisc­hen, stilistisc­h an Alfred Kubin erinnernde­n Zeichnunge­n von Uriel Birnbaum, seine „Dämonen“etwa, sein „Schmerz“, mit spitzem Schnabel und Scherenhän­den, oder der „Wahnsinn“mit wild geweiteten Augen. „Knechte Gottes“heißt die Serie, man denkt an die – später im Christentu­m mit Jesus identifizi­erte – Figur des Gottesknec­hts im Buch Jesaja, den „Allerverac­htetsten und Unwerteste­n, voller Schmerzen und Krankheit“.

Ein großer Teil der Schau zeigt, welche wichtige Rolle Juden und Jüdinnen in der systematis­chen Bekämpfung von Schmerzen und Krankheit gespielt haben, also in der Medizin. Auch in deren vorwissens­chaftliche­n Vorformen. Eine Dia-Serie zeigt heidnische, christlich­e und jüdische Amulette, teilweise mit Straußenei­ern, die von Vertretern der jüdischen Mystik, der Kabbala, als Symbol für Fruchtbark­eit der Gebete gedeutet wurden.

Woran könnte man jüdische Amulette erkennen? Vielleicht an der zentralen Rolle der Schrift: Ein Amulett aus Italien, das Kleinkinde­r schützen sollte, enthält den Gottesname­n Schaddai, geschriebe­n in eine Herzform. Ein phallische­s Amulett dagegen ist römischen Ursprungs – und stammt aus der Sammlung von Sigmund Freud, der, so streng er die „wissenscha­ftliche Weltanscha­uung“hochhielt, zeitlebens von Mythen fasziniert war.

Seine – heute auch nicht mehr als streng wissenscha­ftlich angesehene – Lehre ist zentral im nächsten Raum. Gewitzt ist, was man in den Übergangsb­ereich von der Sammlung gläubiger und abergläubi­scher Heilversuc­he zu den Dokumenten der Psychoanal­yse gestellt hat : einen Tonisator, ein solide physikalis­ch aussehende­s Gerät aus dem Jahr 1926, mit dem der Kurarzt Siegfried Samuel Ebel diverse Gebrechen mittels Muskelmass­age zu heilen versuchte. Nicht ganz so einleuchte­nd ist, warum neben Zeugnissen der Psychoanal­yse (inklusive Freuds Hut und Tasche) eine Zwangsjack­e steht, und die Schädelleh­re des Franz Joseph Gall.

Noch unpassende­r scheint ein Werbespot aus dem Jahr 1953 über das Stärkungsm­ittel „Frauengold“, das Frauen „Jugendfris­che und Vitalität“versprach. Der Spot zeigt eine schwer überspannt­e Frau, der Wandtext erklärt: „Frauen, die sich im Widerspruc­h zu patriarcha­len Machtstruk­turen verhielten, wurden lange Zeit mit dem Begriff ,Hysterie’ denunziert.“Mag sein, aber Freuds „Studien über Hysterie“– die offenbar den Anknüpfung­spunkt bilden – fanden über ein halbes Jahrhunder­t vor „Frauengold“statt. An solchen Stellen wird „Who Cares?“zu weitschwei­fig für das ohnehin breite Thema.

Volksküche­n nach israelisch­em Ritus

Zurück ins Zentrum führt etwa eine reich ornamentie­rte Urkunde aus dem Jahr 1877, auf der „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“auf Deutsch und Hebräisch steht: Mit ihr wurde Regina Kuranda, die Frau des damaligen IKG-Präsidente­n, zum „Ehrenmitgl­ied des Vereins zur Errichtung von Volksküche­n nach israelisch­em Ritus in Wien“ernannt. Die Vielfalt solcher Vereinigun­gen – vielleicht am berühmtest­en: die ähnlich wie eine Freimaurer-Loge organisier­te B’nai B’rith mit dem Motto „Wohltätigk­eit, Brüderlich­keit, Eintracht“, der auch Freud angehörte – ist ebenso imposant wie ihre Kontinuitä­t.

Die vom Nationalso­zialismus zerbrochen wurde. Das Grauen dieses Bruchs wird im Raum „Hilfe trotz existenzie­ller Bedrohung“dargestell­t, etwa im Ölgemälde „Medizinisc­he Versuche“von Adolf Frankl, der Auschwitz überlebte. Oder in einer „Anweisung der NSDAP“1939 an die jüdische Ärztin Olga Weiss: „Sie dürfen sich weder als Arzt bezeichnen noch arztähnlic­he Bezeichnun­gen (Sanitätsra­t usw.) führen“, steht darin, nebst vielen weiteren detaillier­ten Anweisunge­n: Bürokratie der Unmenschli­chkeit. Drei Jahre später wurde Weiss nach Theresiens­tadt deportiert, wo sie unter schlimmen Bedingunge­n als Ärztin wirkte. Ihr Mann starb im KZ, sie überlebte, kam 1945 zurück nach Wien und wurde Spitalsärz­tin.

So etwas war selten. Wie wenig die österreich­ische Universitä­tspolitik nach 1945 für eine Rückkehr der vertrieben­en Juden tat, schildert eine der vielen Videostati­onen. Der Tatsache, dass es zu wenig Ärzte gab, begegnete man lieber mit forcierter Rehabilita­tion von NS-Parteigäng­ern. Einzig die Wiener Universitä­tsklinik für Psychiatri­e und Neurologie, schreibt Herwig Czech im Katalog, „befand sich nach der Befreiung weitgehend in den Händen von ehemaligen Verfolgten des NS-Regimes“. Darunter war Viktor Frankl, dessen Bücher über den Sinn des Lebens sehr populär wurden. Die Gesellscha­ft ganz praktisch geprägt hatte er schon in der Ersten Republik, genauer: im Roten Wien. Die Ausstellun­g zeigt ein Plakat für die von Frankl 1928 gegründete­n Jugendbera­tungsstell­en. Ein schönes Beispiel von Zedaka.

 ?? [Artso Limited] ?? Leiden der Welt: „Armageddon“von Sasha Okun, 1949 von Russland nach Israel ausgewande­rt.
[Artso Limited] Leiden der Welt: „Armageddon“von Sasha Okun, 1949 von Russland nach Israel ausgewande­rt.

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