Jüdische Rezepte zur Heilung der Welt
„Who Cares?“im Jüdischen Museum zeigt, wie das Gebot der Nächstenliebe im Judentum praktisch befolgt wurde und wird. Eine reiche Schau mit viel Medizin, aber auch Kunst und Psychoanalyse. Inklusive Sigmund Freuds Hut.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: Das Gebot der Nächstenliebe wird oft als spezifisch christlich verstanden, das stimmt nicht. Es ist aus dem dritten Buch Mose, in dem die Gebote und Verbote für das Volk Israel stehen, im Markusevangelium zitiert es der jüdische Prediger Jesus. Ein halbes Jahrhundert später prägten andere Rabbiner das Prinzip „Tikun Olam“, was man als Verbesserung und Vervollkommnung der Welt übersetzen kann, oder auch als Heilung. Dieser Imperativ, der nicht zufällig dem Popsong-Titel „Heal the World“entspricht, ist im Grunde das Motto der aktuellen Ausstellung im Jüdischen Museum (bis 1. 9.).
Die Kuratoren Caitlin Gura und Marcus Patka haben sich stattdessen für „Who Cares?“entschieden, was an den christlichen Begriff „Caritas“anklingt. Passt auch – und illustriert, wie freimütig die Schau zwischen spezifisch Jüdischem und Allgemeingültigem springt. Bis hin zu dem logischen Schlusspunkt: 13 Spendenboxen, darunter drei für genuin jüdische Organisationen wie das Psychosoziale Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) sowie zehn andere, von Amnesty International über SOS Kinderdorf bis zur – quasi urtümlich jüdisch benannten – Arche Noah, die sich für den Erhalt von Kulturpflanzen einsetzt.
Soziales von Maimonides bis Tandler
Unterschiedlichste Formen der Wohltätigkeit also. Oder, um es mit dem hebräischen Begriff zu sagen, der Zedaka, verwandt mit dem Wort „Zadik“, der Gerechte. Zedaka soll die Welt gerechter machen, sie geht über individuelles, spontanes Helfen hinaus, impliziert geradezu Institutionalisierung, bis hin zur Sozialpolitik. Schon der jüdische Philosoph Moses Maimonides (1135–1204) – nach dem das heutige jüdische Seniorenheim im Wien benannt ist – schrieb, er kenne keine Gemeinde ohne Wohltätigkeitskassa. In dieser Tradition steht letztlich auch das „geschlossene System der Fürsorge“, das der jüdische Mediziner Julius Tandler im Wien der Ersten Republik etabliert hat.
Dass die Unordnung, die Heilungsbedürftigkeit der Welt, durchaus nicht nur aus menschlicher Ungerechtigkeit entstanden ist, illustrieren im ersten Raum der Ausstellung unter anderem die traumatischen, stilistisch an Alfred Kubin erinnernden Zeichnungen von Uriel Birnbaum, seine „Dämonen“etwa, sein „Schmerz“, mit spitzem Schnabel und Scherenhänden, oder der „Wahnsinn“mit wild geweiteten Augen. „Knechte Gottes“heißt die Serie, man denkt an die – später im Christentum mit Jesus identifizierte – Figur des Gottesknechts im Buch Jesaja, den „Allerverachtetsten und Unwertesten, voller Schmerzen und Krankheit“.
Ein großer Teil der Schau zeigt, welche wichtige Rolle Juden und Jüdinnen in der systematischen Bekämpfung von Schmerzen und Krankheit gespielt haben, also in der Medizin. Auch in deren vorwissenschaftlichen Vorformen. Eine Dia-Serie zeigt heidnische, christliche und jüdische Amulette, teilweise mit Straußeneiern, die von Vertretern der jüdischen Mystik, der Kabbala, als Symbol für Fruchtbarkeit der Gebete gedeutet wurden.
Woran könnte man jüdische Amulette erkennen? Vielleicht an der zentralen Rolle der Schrift: Ein Amulett aus Italien, das Kleinkinder schützen sollte, enthält den Gottesnamen Schaddai, geschrieben in eine Herzform. Ein phallisches Amulett dagegen ist römischen Ursprungs – und stammt aus der Sammlung von Sigmund Freud, der, so streng er die „wissenschaftliche Weltanschauung“hochhielt, zeitlebens von Mythen fasziniert war.
Seine – heute auch nicht mehr als streng wissenschaftlich angesehene – Lehre ist zentral im nächsten Raum. Gewitzt ist, was man in den Übergangsbereich von der Sammlung gläubiger und abergläubischer Heilversuche zu den Dokumenten der Psychoanalyse gestellt hat : einen Tonisator, ein solide physikalisch aussehendes Gerät aus dem Jahr 1926, mit dem der Kurarzt Siegfried Samuel Ebel diverse Gebrechen mittels Muskelmassage zu heilen versuchte. Nicht ganz so einleuchtend ist, warum neben Zeugnissen der Psychoanalyse (inklusive Freuds Hut und Tasche) eine Zwangsjacke steht, und die Schädellehre des Franz Joseph Gall.
Noch unpassender scheint ein Werbespot aus dem Jahr 1953 über das Stärkungsmittel „Frauengold“, das Frauen „Jugendfrische und Vitalität“versprach. Der Spot zeigt eine schwer überspannte Frau, der Wandtext erklärt: „Frauen, die sich im Widerspruch zu patriarchalen Machtstrukturen verhielten, wurden lange Zeit mit dem Begriff ,Hysterie’ denunziert.“Mag sein, aber Freuds „Studien über Hysterie“– die offenbar den Anknüpfungspunkt bilden – fanden über ein halbes Jahrhundert vor „Frauengold“statt. An solchen Stellen wird „Who Cares?“zu weitschweifig für das ohnehin breite Thema.
Volksküchen nach israelischem Ritus
Zurück ins Zentrum führt etwa eine reich ornamentierte Urkunde aus dem Jahr 1877, auf der „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“auf Deutsch und Hebräisch steht: Mit ihr wurde Regina Kuranda, die Frau des damaligen IKG-Präsidenten, zum „Ehrenmitglied des Vereins zur Errichtung von Volksküchen nach israelischem Ritus in Wien“ernannt. Die Vielfalt solcher Vereinigungen – vielleicht am berühmtesten: die ähnlich wie eine Freimaurer-Loge organisierte B’nai B’rith mit dem Motto „Wohltätigkeit, Brüderlichkeit, Eintracht“, der auch Freud angehörte – ist ebenso imposant wie ihre Kontinuität.
Die vom Nationalsozialismus zerbrochen wurde. Das Grauen dieses Bruchs wird im Raum „Hilfe trotz existenzieller Bedrohung“dargestellt, etwa im Ölgemälde „Medizinische Versuche“von Adolf Frankl, der Auschwitz überlebte. Oder in einer „Anweisung der NSDAP“1939 an die jüdische Ärztin Olga Weiss: „Sie dürfen sich weder als Arzt bezeichnen noch arztähnliche Bezeichnungen (Sanitätsrat usw.) führen“, steht darin, nebst vielen weiteren detaillierten Anweisungen: Bürokratie der Unmenschlichkeit. Drei Jahre später wurde Weiss nach Theresienstadt deportiert, wo sie unter schlimmen Bedingungen als Ärztin wirkte. Ihr Mann starb im KZ, sie überlebte, kam 1945 zurück nach Wien und wurde Spitalsärztin.
So etwas war selten. Wie wenig die österreichische Universitätspolitik nach 1945 für eine Rückkehr der vertriebenen Juden tat, schildert eine der vielen Videostationen. Der Tatsache, dass es zu wenig Ärzte gab, begegnete man lieber mit forcierter Rehabilitation von NS-Parteigängern. Einzig die Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie, schreibt Herwig Czech im Katalog, „befand sich nach der Befreiung weitgehend in den Händen von ehemaligen Verfolgten des NS-Regimes“. Darunter war Viktor Frankl, dessen Bücher über den Sinn des Lebens sehr populär wurden. Die Gesellschaft ganz praktisch geprägt hatte er schon in der Ersten Republik, genauer: im Roten Wien. Die Ausstellung zeigt ein Plakat für die von Frankl 1928 gegründeten Jugendberatungsstellen. Ein schönes Beispiel von Zedaka.