Israels Trauma hemmt die Empathie für Gaza
Israelische Medien berichten über die Opfer des Hamas-Terrors, die israelischen Gefallenen und das eigene Leid. Palästinensische Stimmen kommen dabei kaum vor.
Kan Reshet Bet ist einer der wichtigsten Radiosender Israels, fokussiert auf News und Talk. In normalen Zeiten treten in der morgendlichen Politshow fast täglich hochrangige Politiker auf. Seit Beginn des Gaza-Kriegs jedoch beginnt fast jede Sendung mit einem Gespräch der anderen Art: Zu Wort kommen auf dem prominentesten Interviewplatz Angehörige von Menschen, die am 7. Oktober ermordet oder entführt wurden, oder von Soldaten, die bei Kämpfen im Gazastreifen gefallen sind. Die Moderatoren, Kalman Liebeskind und Assaf Lieberman, die mit Interviewpartnern sonst hart ins Gericht gehen, befragen die Trauernden behutsam und empathisch. Dass das Andenken der Toten „zum Segen sein werde“, wünschen sie, wie es im Judentum üblich ist, und dass „bessere Tage kommen – für uns alle“.
Seit dem Terrorangriff der Hamas vor vier Monaten herrscht in dem Land der Ausnahmezustand – und das gilt auch für seine Medien. Die Politprogramme der großen Fernsehund Radiosender beschäftigen sich fast rund um die Uhr mit dem Krieg. Zwischen Debatten und Nachrichten werden emotionale Porträts der Gefallenen ausgestrahlt. Auch in Print- und Onlinemedien gibt es kaum ein anderes Thema als Kampf und Trauer – auf der israelischen Seite.
Überwältigt vom eigenen Leid
„Die Berichterstattung ist zutiefst israelisch“, sagt Keren TenenboimWeinblatt, Professorin für Kommunikation und Journalismus an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Ihr Fokus ist nach innen gerichtet, auf das israelische Trauma. Sie ist noch nicht bereit dazu, andere Perspektiven zuzulassen.“Zum einen, glaubt die Expertin, entspreche das der beherrschenden Gefühlslage in der jüdischen Gesellschaft: Nachdem die Terroristen der Hamas am 7. Oktober 1200 Menschen ermordet hatten, viele nach Folter oder Vergewaltigung, seien viele Israelis zu sehr vom eigenen Leid überwältigt, um Empathie für die andere Seite aufzubringen.
Zugleich spiegle die Ausklammerung palästinensischer Stimmen auch die Haltung der meisten Medienschaffenden wider. „Das Trauma ist sehr stark, und die Journalisten sind Teil der betroffenen Gemeinschaft.“
Als einzige Ausnahme hat TenenboimWeinblatt die linksliberale Zeitung „Haaretz“ausgemacht. Dort kommen, wie auch in Friedenszeiten, gelegentlich palästinensische Autoren zu Wort, ebenso wie jüdische Kommentatoren, die Empathie für die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza fordern oder gar ein baldiges Ende des Krieges. „Aber nur in der ,Haaretz‘ sehe ich solche Stimmen“, sagt die Expertin.
„Hunderttausende in Gaza töten“
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wiederum gibt es Ausreißer der anderen Art. Der TV-Journalist Zvi Yeheskeli vom Kanal 13 sagte im Dezember in einer Fernsehdebatte, die Armee müsse in Gaza je
den töten, der auf irgendeine Weise mit der Hamas in Verbindung stehe – „und das sind Hunderttausende“.
In den sozialen Medien wurde dieser Ausschnitt der Debatte vielfach geteilt und kommentiert. Manche nicht israelischen User präsentierten den Clip als Beweis für die angeblich genozidalen Absichten Israels im Gazastreifen. Yeheskelis Diskussionspartner reagierten indes kritisch auf die Äußerung, und auch Tenenboim-Weinblatt stuft sie als „außergewöhnlich“ein.
Darüber hinaus hat die Expertin in der israelischen Berichterstattung seit Kriegsbeginn ein weiteres Phänomen beobachtet. „Die Medien haben eine Rolle übernommen, die über die klassische Rolle der Journalisten, Informationen zu liefern und Kritik zu üben, hinausgeht“, sagt sie. „Sie haben außerdem die Verantwortung auf sich genommen, die nationale Solidarität und Widerstandskraft zu stärken, der Gesellschaft bei der Verarbeitung des Traumas zu helfen, die Armee in ihrem Kampf zu unterstützen und zur Befreiung der Geiseln beizutragen.“
Deshalb komme es zwar vor, dass Militärexperten in Talkshows darüber diskutierten, auf welchem Wege sich die israelischen Kriegsziele am effektivsten erreichen ließen – aber nicht über die Kriegsziele selbst. „Der Raum dessen, was als akzeptable Äußerung gilt, hat sich definitiv verengt“, schildert die israelische Expertin.
Auch damit spiegeln die Medien eine derzeit in Israel weit verbreitete Haltung wider. Ende Oktober ließ Tenenboim-Weinblatt eine Umfrage zur Wahrnehmung der Rolle der Medien durchführen. Das Ergebnis: 85 Prozent der Befragten stimmten der Behauptung zu, es sei die Pflicht der Medien, während des Krieges zur gesellschaftlichen Solidarität und Einigkeit beizutragen.
„Das fordert einen Preis“
Die verengte Perspektive mag den Wunsch vieler Leser und Zuschauer erfüllen – doch „sie fordert einen Preis“, warnt TenenboimWeinblatt: „Wer nur den israelischen Mainstream-Medien ausgesetzt ist, hat nicht das gleiche Bild von der Realität, das die Menschen außerhalb Israels haben. Und das macht es schwer zu verstehen, wie Israel von außen wahrgenommen wird. Auf lange Sicht ist das riskant.“