Pleiten sind Europas größtes Risiko
Weltweit ist heuer Superwahljahr, aber die Inflation bleibt, sagt Coface-Chefökonom Jean-Christophe Caffet. Der Mangel an (billigem) Geld treibt Unternehmen in die Enge.
Paris. Das politische Risiko für die Weltwirtschaft ist so groß wie lang nicht mehr. Und das liegt nicht nur an den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten. In einem Jahr, in dem in 60 Ländern von Indien über die USA bis in die EU gewählt wird und jeder vierte Mensch weltweit an die Urne schreiten darf, birgt das für Investoren und Unternehmen schon Unsicherheit genug. Umso mehr, als die Zeichen angesichts des anhaltenden Unmuts der Bevölkerung über die hohe Teuerung in vielen Ländern auf Umbruch stehen.
Den Regierungen bleiben wenig Zeit und Munition, um das noch zu ändern. Dass die globale Wirtschaft letztlich besser gelaufen sei als erwartet, liege auch daran, dass „die Staaten in den Krisen sehr, sehr viel Steuergeld ausgeschüttet haben“, betont Xavier Durand, Chef des Kreditversicherers Coface, auf der Risikokonferenz des Unternehmens in Paris. Dieses Pulver ist verschossen.
Hohe Ersparnisse, günstige Kredite aus der Zeit der Nullzinsen und die Krisenhilfen der Staaten hätten viele Unternehmen – und Volkswirtschaften – bisher vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Margen der meisten Betriebe sahen trotz all des Gegenwinds gut aus, die Menschen behielten ihre Jobs, die Wirtschaft wuchs – wenn auch langsam. „Aber die jüngsten Daten weisen darauf hin, dass dieser feine Mechanismus beginnt zu klemmen“, sagt Durand.
Hohe Kerninflation
Von einem Überfluss an erspartem Kapital wie Mitte des vergangenen Jahrzehnts kann längst keine Rede mehr sein, die Cashflows der Unternehmen beginnen in vielen Branchen zu sinken, und Kredite sind nicht mehr so leicht zu haben wie in den Jahren bis zur Pandemie.
Denn um die starke Inflation in den Griff zu bekommen, haben Zentralbanken die Leitzinsen in den vergangenen 18 Monaten rasch und kräftig nach oben geschraubt. Die Hoffnung der Finanzmärkte, dass die Notenbanker die Geldpolitik nun genauso schnell wieder lockern würden, hält Coface-Chefökonom Jean-Christophe Caffet für überzogen. Die Zeit der Zinsanstiege sei zwar voraussichtlich vorerst zu Ende, aber ein Zurück zu den
Nullzinsen der 2010er-Jahre werde es auf absehbare Zeit nicht geben.
Das liegt in seinen Augen auch daran, dass der Kampf gegen die Inflation noch lang nicht gewonnen ist. Bisher sei der Rückgang der Inflationsraten vor allem ein „mechanischer“, da die Energie- und Rohstoffpreise sich langsam von ihren Rekordwerten 2022 entfernt haben. Trotzdem liegt die Kerninflation immer noch doppelt so hoch wie von den Notenbankern gewünscht. Es sei daher nicht zu erwarten, dass sie eineinhalb Jahre straffere Geldpolitik über Nacht ins Gegenteil verkehren. Die Folge: Die Ära des billigen Geldes ist auf absehbare Zeit Geschichte.
Firmenkredite schrumpfen
Das macht sich langsam, aber sicher auch bei den Unternehmen bemerkbar. Bisher konnten viele von ihnen noch von den günstigen
Krediten vergangener Jahre zehren, doch Coface-Chef Durand sieht „eine Wand an Schulden auf uns zukommen“, die 2025 fällig werden. Das Volumen an Schulden, die (teuer) refinanziert werden müssen, wird schrittweise steigen. Und nicht alle, die einen Kredit brauchen, werden auch einen erhalten. In den USA hat sich das gegen Ende des Vorjahres bereits abgezeichnet, als das Wachstum der neu vergebenen Kredite an Unternehmen stark eingebrochen ist. In Europa ist das Neukredit-Volumen sogar gesunken (siehe Grafik).
Die mögliche Zinswende von Fed und EZB werde das nicht so rasch ändern, sind die Experten überzeugt. Hohe Finanzierungskosten, stark steigende Löhne und die Notwendigkeit, staatlich garantierte Kredite aus der Pandemiezeit zurückzuzahlen, würden vielmehr die Insolvenzraten weiter in die Höhe
treiben. Heuer dürfte die Zahl der jährlichen Pleiten erstmals über dem Niveau vor Corona zu liegen kommen, so die Erwartung.
Und das könnte rasch zum Problem werden: „Ein starker Anstieg der Firmeninsolvenzen ist das größte Risiko für die Eurozone“, sagt Caffet. Denn mit den Firmenpleiten kämen auch ein steiler Anstieg der Arbeitslosigkeit, höhere Kosten für die Sozialsysteme – und die Teuerung wäre dadurch trotzdem nicht besiegt.
Die Chance, dass die Regierenden in einem Jahr wieder vor einer unzufriedenen Menge stehen werden, ist also groß. Ganz egal, wer die 60 Wahlen gewinnen wird.