Die Presse

Wir sind viele, und wir haben die besten Songs

Wer heute 60 ist, wundert sich nicht, wenn 20-Jährige seine Musik hören: Die Beständigk­eit der Popkultur ist der größte Bonus der Boomer.

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

Es ist nicht leicht, alt zu werden. Auch nicht als Boomer, der, als er noch weder alt war noch wusste, was ein Boomer ist, schon Mick Jagger (Jahrgang 1943, also noch die „Silent Generation“) im Ohr hatte: „What a drag it is getting old!“Heute kann er, wenn er trüber Laune ist, Zeilen aus dem Song „Loser“des Generation-X-Repräsenta­nten Beck (Jahrgang 1970) variieren: „I’m a boomer, baby, so why don’t you kill me.“

Egal, wie ihm geschieht, ob’s regnet oder die Sonne scheint, er hat einen Popsong im Kopf. Und zwar einen guten. Denn das ist – Krawattenb­reite, Rocklänge, Bruttoeink­ommen und ähnliche Äußerlichk­eiten einmal beiseite – das wirkliche Merkmal der Boomer: Sie haben die besten Songs.

Warum? Erstens, weil’s halt einmal so ist. Fragen Sie den „Rolling Stone“oder die Rolling Stones. Zweitens, weil Boomer schon in der Unterstufe den US-Liedermach­er Tom Lehrer (Jahrgang 1928) hörten, wie er sang: „Though he may have won all the battles, we had all the good songs!“

Er, das war in diesem Lied der spanische Diktator Franco. Der Trost lässt sich aber verallgeme­inern: Die Geschichte ist amoralisch und ungerecht, aber wenn wir verlieren, dann sind wir wenigstens „beautiful losers“, wie Leonard Cohen (Jahrgang 1934) einen Roman genannt hat. Wir haben die schönen Lieder.

Es sind auch laute Lieder. Denn wir sind drittens viele. Wir sind die geburtenst­arken Jahrgänge, an uns kommt man nicht vorbei. Auch darüber haben wir ein Lied, Jim Morrison (Jahrgang 1943) hat es uns gesungen: „They got the guns, but we got the numbers.“„Five to One“heißt der Song und klingt ziemlich martialisc­h, 1968 halt. „Ageistisch“ist er auch: Die Alten werden alt, und die Jungen werden stärker, heißt es darin: „Gonna win, yeah, we’re taking over!“

Und die mit solchen Parolen aufgewachs­ene gloriose Generation soll jetzt, keine 60 Jahre später, die Staffel abgeben, in den wohlverdie­nten Ruhestand

treten, ihre „permanent vacation“(Jim Jarmusch, Jahrgang 1953) beginnen? Na gut. Wenn’s denn sein soll. Die Songs bleiben uns ja. Und sie bleiben allen, immer und überall. Die Popkultur ist beständige­r denn je. Welchem Vater war es je vergönnt, von seinem 16-jährigen Sohn in ein Jugendloka­l mitgenomme­n zu werden, wo sie nur Musik spielen, die es schon gegeben hat, als er selbst 16 war?

Vor 50 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Heute ist es normal. Sie sind retro, wir sind Vintage, alles geht, alle sind froh. Eigentlich ist es unheimlich, ein Boomer zu sein. Aber auch okay. Wie Lenny Kravitz (Jahrgang 1964) singt: „It ain’t over till it’s over.“

„It ain’t over till it’s over“, sang Lenny Kravitz, Jahrgang 1964, also ein Boomer.

Newspapers in German

Newspapers from Austria