Die Presse

Das Grauen an der grünen Grenze

Agnieszka Holland hat die Flüchtling­skrise an der polnisch-belarussis­chen Grenze verfilmt. „Die EU lässt Unmenschli­ches geschehen“, sagt sie. „Green Border“läuft im Kino.

- VON ANDREY ARNOLD

Es beginnt trügerisch ruhig: Menschen im Flugzeug, unterwegs in ein fremdes Land. Eine Familie aus Syrien, auf der Flucht vor Kriegsgewa­lt. Sie wollen zu ihren Verwandten in Schweden, von Minsk aus über Polen, das sie für die Durchreise offen wähnen. Doch kurz nach der Landung beginnt für sie ein Spießruten­lauf: Die „grüne Grenze“zwischen Belarus und Polen erweist sich als sumpfiges Sperrgebie­t, in dem Geflüchtet­e als Spielbälle missbrauch­t werden.

Während der belarussis­che Diktator, Lukaschenk­o, gezielt Menschen aus Krisengebi­eten anlockt und nach Westen schickt, um die EU unter Druck zu setzen, schlägt Polen mit brutalen Pushbacks zurück. Die syrische Familie versteht das alles nur bedingt. Sie sorgt sich zusehends um ihr Leben, gefangen in einer gefährlich­en Grauzone, in der Menschenre­chte keine Rolle zu spielen scheinen.

„Green Border“, der jüngste Film der polnischen Regieveter­anin Agnieszka Holland, spielt 2021. Doch das bemerkensw­erte Politdrama, das bei den Filmfestsp­ielen von Venedig mit dem Spezialpre­is der Jury ausgezeich­net wurde, wirkt nach wie vor brandaktue­ll. Die kontrastre­ichen Schwarz-Weiß-Bilder des Films stürzen uns mitten ins Geschehen, vermitteln die Angst und die Verletzlic­hkeit der Geflüchtet­en auf unmittelba­r körperlich­e Weise. Zugleich weitet „Green Border“den

Blick auf den Gesamtzusa­mmenhang, indem er die Perspektiv­en unterschie­dlicher Figuren miteinbezi­eht : Aktivistin­nen, Grenzwächt­er, eine „unbeteilig­te“Psychologi­n.

Als sich die Krise an der polnisch-belarussis­chen Grenze zuzuspitze­n begann, wollte Holland sofort filmisch reagieren, erzählt sie der „Presse“. Unklar war nur, ob dokumentar­isch oder fiktional. „Es begann in einem kleinen Dorf. Eine Gruppe afghanisch­er Flüchtling­e steckte dort fest, bedrängt von weißrussis­chen Grenzwächt­ern auf der einen und polnischen auf der anderen Seite. Die Presse wurde darauf aufmerksam, Opposition­spolitiker, Ärzte und Aktivisten versuchten den Menschen zu helfen. Anfangs ließ man sie, dann kam der Befehl: Keiner darf mit den Flüchtling­en kommunizie­ren. Die Aktivisten griffen zum Megafon, die Grenzwächt­er drehten ihre Motoren laut auf.“

Diskret in privaten Wäldern gedreht

Holland fand das absurd und grausam. Als sich die Situation ausweitete, Leben forderte und das Grenzgebie­t für Journalist­en und NGOs gesperrt wurde, wusste sie: „Green Border“wird ein Spielfilm. Allerdings einer, der auf intensiven Recherchen fußt. Das sei nicht anders als bei Historienf­ilmen, sagt die 75-Jährige, bekannt für Oscar-nominierte Holocaust-Dramen wie „In Darkness“(2011): Auch dort stütze sie sich auf Tatsachenb­erichte. Die Regisseuri­n und ihr Team interviewt­en Flüchtling­e, Grenzwächt­er, Bewohner der Region. Manche der schockiere­ndsten Szenen gründen auf deren Erzählunge­n.

Hollands Wut über die Pushback-Politik der (mittlerwei­le abgewählte­n) PiS-Regierung ist im Film deutlich spürbar. „Green Border“entstand ohne staatliche Förderung, gedreht wurde er diskret in privaten Wäldern, um Medienaufr­uhr zu vermeiden. „Eine Woche vor Drehschlus­s haben wir einen Stacheldra­htzaun aufgebaut – und landeten in Windeseile in den sozialen Medien.“Als der Inhalt des Films publik wurde, fühlte sich auch die polnische Politik angesproch­en: Der damals amtierende Justizmini­ster verglich Holland mit Nazi-Propagandi­sten, die Polen einst als Banditen verunglimp­ften. Die Regisseuri­n reichte Klage ein.

Ob ihr Film etwas an der weiterhin brisanten Lage ändern könne, wisse sie nicht. Sie sieht auch die EU in der Pflicht, wirft ihr aber Scheinheil­igkeit vor: „Die Union pocht auf Menschenre­chte, lässt an ihren Außengrenz­en aber Unmenschli­ches geschehen. Sie hat keine Antworten und hofft, dass Autokraten wie Erdoğan verhindern werden, dass Populisten in Westeuropa die Wahlen gewinnen.“Ihr war wichtig, die dramatisch­e Realität, die von vielen bewusst ausgeblend­et werde, ins Licht zu rücken. „Jemand sagte zu mir: Wenn sich nach deinem Film auch nur ein Mensch für die Wahrheit interessie­rt, ist es ein Triumph. Ich rechne mit mindestens 50.“

 ?? [Agata Kubis/Piffl Medien] ?? Eine syrische Familie wird zum politische­n Spielball im gefährlich­en Sperrgebie­t: Die Schwarz-Weiß-Bilder von „Green Border“vermitteln die Angst der Geflüchtet­en besonders eindringli­ch.
[Agata Kubis/Piffl Medien] Eine syrische Familie wird zum politische­n Spielball im gefährlich­en Sperrgebie­t: Die Schwarz-Weiß-Bilder von „Green Border“vermitteln die Angst der Geflüchtet­en besonders eindringli­ch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria