200.000 Pfleger braucht das Land
Alle sprechen vom „Pflegenotstand“. Nun zeigt eine Prognose der Gesundheit Österreich, wie groß der Personalbedarf bis ins Jahr 2050 ist – und dass eine Ausbildungsoffensive wohl nicht reicht.
Dass die Pflege in Österreich ein riesiger Problembereich ist, ventilieren die politischen Parteien aller Couleurs seit Jahren in regelmäßigen Abständen, die Corona-Pandemie hat die Debatte zusätzlich in den Vordergrund geholt. Lösungsvorschläge gab es viele, Ideen für Pflegereformen haben sich in beinahe allen Programmen der vergangenen und der aktuellen Regierung wiedergefunden. Wie erfolgreich die Umsetzung der Vorschläge ist, ist aber schwierig zu messen, weil Pflege, speziell die Qualität von Pflege, kaum quantifizierbar ist. Auch darüber, wie groß der „Pflegenotstand“, also der Personalmangel im Pflegesektor, nun genau ist, sind in den vergangenen Jahren verschiedenste Angaben kursiert. Die letzten belastbaren Daten stammten aus dem Jahr 2019. In dieser Frage hat die Gesundheit Österreich (GÖG), also das nationale Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen, nun aber am Mittwoch eine aktuelle Prognose vorgelegt.
Der Bedarf
Kurz zusammengefasst: Bis 2050 werden in Österreich rund 200.000 Personen im Pflegebereich gebraucht. Diese Prognose errechnet sich aus dem Ersatzbedarf, also der Summe der jetzt im Pflegebereich tätigen Personen, die in Pension gehen, und dem Zusatzbedarf. Letzterer entsteht durch die demografische Entwicklung, also schon allein dadurch, dass ein immer größerer Anteil der Bevölkerung immer älter wird. Der Ersatzbedarf liegt bis 2050 bei rund 108.000, der Zusatzbedarf bei rund 88.000 Personen. Diese Zahlen beinhalten die Pflege in den Akut kranken anstalten inklusive Reha Einrichtungen und die stationäre, teil stationäre und mobile Langzeit pflege. Nicht eingerechnet sind Personen, die freiberuflich oder in Arztpraxen,Be hinderten betreuungs einrichtungen, der Lehre, als Sachverständige oder beider Sozialversicherung arbeiten.
Betrachtet man nur die nähere Zukunft, zeigt sich ein Bedarf von 51.000 Personen bis ins Jahr 2030 und von 120.000 Personen bis 2040. Allein in den drei Berufsgruppen Pflege assistenz, Pflege fach assistenz und Diplomiertes G es und heits-undK ranken pflegepersonal braucht es bis 2030 jährlich also 5000 bis 5900 Personen mehr, um die Versorgung mit Pflegepersonal auf dem Stand des Jahres 2019 zu halten. Dazu kommen noch rund 1000 sonstige Bedienstete im Sektor.
Der Höhepunkt
Im Vergleich zur eingangs erwähnten letzten Prognose aus dem Jahr 2019 hat sich beim Ausblick bis 2030 damit kaum etwas geändert. Allerdings waren Brigitte Juraszovich, die stellvertretende Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe und Langzeitpflege in der GÖG, und ihr Team vor fünf Jahren noch davon ausgegangen, dass der Höhepunkt des Bedarfs bis 2030 in den Jahren 2023 bis 2025 erreicht sein würde. Die neue Prognose zeigt nun, dass sich der Mehrbedarf zeitlich nach hinten verschoben hat. Die Spitzen bis 2030 werden nun zwei Jahre später (2025 bis 2027) erwartet. Der Grund für die Verschiebung liegt laut Juraszovich an den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, als es zur Übersterblichkeit in der älteren Bevölkerungsgruppe gekommen ist und gleichzeitig auch weniger Menschen in Pflegeeinrichtungen aufgenommen wurden. In den Jahren 2031 bis 2040 werden dann im Schnitt 5600 Pflegekräfte benötigt, 2041 bis 2050 sind es 6200.
Die Ausbildung
Die gute Nachricht: Aktuell werden durchschnittlich 5100 Personen pro Jahr in diesen Bereichen ausgebildet. Wenn alle Ausgebildeten in Pflegeberufen blieben, wäre die Lücke also nicht allzu groß. Das tun laut GÖG allerdings nur etwa 80 Prozent der Absolventen. Umgerechnet hieße das, pro Jahr müssten das Ziel bei insgesamt 7000 bis 8000 Absolventen liegen. Derzeit arbeitet in den Krankenanstalten großteils diplomiertes Pflegepersonal, in der stationären Langzeitbetreuung – also etwa in Altenheimen – sind vor allem Pflegeassistenten tätig. Die Ausbildungsmöglichkeiten seien mittlerweile durchlässig, sagt Juraszovich. Es gäbe also die Möglichkeit, dass sich Pflegeassistenten nahtlos zu Pflegefachassistenten weiterbilden können. Bei der Attraktivierung der Ausbildung und den Zuschüssen habe sich auch bereits einiges getan.
Die Maßnahmen
Dennoch brauche es mehr, damit die prognostizierten Lücken im Pflegesystem geschlossen werden können, sagen die Experten der GÖG. Sie nennen etwa eine Effizienzsteigerung durch bessere Abläufe, einen Fokus auf Prävention, sodass mehr Menschen gesund alt werden, oder die Rekrutierung von internationalen Pflegekräften. Die ÖVP will bis 2030 laut einer neuen Ankündigung 10.000 Pflegemitarbeiter aus dem Ausland holen. Die Präsidentin des türkisen Seniorenbunds, Ingrid Korosec, fordert hingegen einen Ausbau der Digitalisierung wie etwa durch Telemedizin oder Smart-HomeTechnologien. Generell ruft sie dazu auf, eine Pflegereform nicht nur als Frage der Personalressourcen zu sehen, „sondern als Chance für eine grundlegende Neugestaltung der Pflege und Betreuung in Österreich“. SPÖ, Gewerkschaft und Grüne setzen sich vor allem für bessere Arbeitsbedingungen ein. Diese seien laut Juraszovich für die Mitarbeiter im Pflegebereich das wichtigste Kriterium, noch vor einer besseren Bezahlung. „Sie kommen oft nicht dazu, das, was sie gelernt haben, und das, was Pflege eigentlich ausmacht, anzuwenden“, sagt sie. Ein Teufelskreis, denn je weniger Pflegepersonal es gebe, umso höher sei die Überlastung und umso mehr Personen würden den Beruf verlassen, was die Arbeitsbedingungen wiederum verschlechtere.