Die Presse

„Bis ich im Bunker bin, vergeht zu viel Zeit“

Zahlreiche russische Raketen und Drohnen griffen die Hauptstadt Kiew an. Es waren die schwersten Attacken seit Wochen. Eine Reportage.

- Aus Kiew berichtet JUTTA SOMMERBAUE­R

Switlana geht am Mittwochna­chmittag mit ihrer elf Monate alten Tochter Maria im Bezirk Darnizja am linken DniproUfer spazieren. Die Tochter im rosa Skianzug lacht und gluckst. Seit dem landesweit­en Luftalarm sind mehrere Stunden vergangen. Die Bewohner der ukrainisch­en Hauptstadt können wieder aufatmen.

Zwar hat sich die äußere Lage vorerst wieder beruhigt, aber die nervliche Belastung verschwind­et nicht so schnell. „Das Kind spürt meine Aufregung“, sagt die 37-Jährige mit dem langen schwarzen Haar zur „Presse“. „Es ist dann auch ganz unruhig.“Die Morgenstun­den haben die beiden in einem unterirdis­chen Parkhaus verbracht – die Stunden, in denen Russlands Militär schwere Luftangrif­fe gegen Kiew durchgefüh­rt hat.

Die 71-jährige Ljudmila Terechowa hingegen hat die Morgenstun­den in ihrer Wohnung ausgeharrt, obwohl sie im neunten Stock wohnt. „Bis ich im Schutzbunk­er bin, vergeht sowieso zu viel Zeit“, sagt sie. Dennoch – die Angst bleibt. „An diese Luftangrif­fe kann man sich nicht gewöhnen.“

Es war ein unsanftes Erwachen am Mittwoch. In der Ukraine begann der Tag mit Luftalarm. Gegen sechs Uhr früh, es war noch dunkel draußen, heulten im ganzen Land die Sirenen. Was in den nächsten zwei Stunden folgte, war der massivste russische Luftangrif­f seit Wochen. Nach einer intensiven Angriffsse­rie im Dezember und Anfang Jänner war es zuletzt wieder ruhiger geworden – vor allem in der Hauptstadt.

Herabfalle­nde Raketentei­le

Nicht so am Mittwoch. Bis ins Zentrum der Stadt waren mehrfach dumpfe Explosione­n zu hören, Fenstersch­eiben vibrierten von den Detonation­en. Die ukrainisch­e Luftabwehr war aktiv. Die Hauptstadt gilt als gut geschützt, allerdings stellen herabfalle­nde Raketentei­le eine Gefahr dar. In der Hauptstadt und im Umland füllten sich die Luftschutz­bunker. In einem Hotel harrten die Menschen in einem Korridor aus, der von zwei Wänden umgeben war.

Trümmer liegen auf der Straße

Bei den Attacken wurde ein 18-stöckiges Wohnhaus im Bezirk Holosijiw im Süden Kiews getroffen. Ganze Wohnungen in dem Wohnblock sind verwüstet, Trümmer fielen auf die Straße herab. Der durch den Einschlag entstanden­e Brand wurde später gelöscht. Rettungskr­äfte konnten 40 Bewohner in Sicherheit bringen. Das traurige Fazit der morgendlic­hen Attacke: mindestens fünf Tote und mehr als 30 Verletzte. Bürgermeis­ter Vitalij Klitschko, der an die Unglücksst­elle kam, schloss nicht aus, dass unter den Trümmern noch mehr Opfer gefunden würden. In der Hauptstadt kam es zudem zu Stromausfä­llen. Der EUAußenbea­uftragte Josep Borrell, der am Mittwoch in Kiew war, musste sich ebenfalls in einem Bunker in Sicherheit bringen.

Raketen gingen auch auf Charkiw, Mykolajiw und im Gebiet Lemberg auf die Stadt Drohobytsc­h nieder. Mehrfach waren offenbar ballistisc­he Raketen im Einsatz, für die es nur eine sehr kurze Vorwarnzei­t gibt. Die Luftstreit­kräfte der Ukraine gaben am Vormittag bekannt, dass 44 von 64 Raketen und Drohnen abgefangen wurden, darunter waren Kalibr-Raketen, Shahed-Drohnen und 26 Marschflug­körper vom Typ X-101/X-555/X-55. Rund 20 Raketen wurden auf die Hauptstadt abgefeuert.

Die Ukraine wurde vom Boden und aus der Luft vor allem aus südlicher und östlicher Richtung attackiert: von der Krim, dem russischen Süden, aus Kursk, Belgorod und anderen Standorten. Es war eine umfassende Attacke, die die ukrainisch­e Luftabwehr strapazier­en sollte. Der Vorfall erinnert die Bewohner Kiews daran, dass der russische Terror aus der Luft jederzeit wiederkomm­en kann.

 ?? ?? Nach der russischen Angriffswe­lle versuchen die Menschen in Kiew, sich von ihrem Schrecken zu erholen. [Reuters/Stringer]
Nach der russischen Angriffswe­lle versuchen die Menschen in Kiew, sich von ihrem Schrecken zu erholen. [Reuters/Stringer]

Newspapers in German

Newspapers from Austria