„In Krisen passieren auch faszinierende Dinge“
Wie kommt Deutschland aus der Krise? Ist Migration alternativlos? Sind Schuldenregeln noch zeitgemäß? Ein Gespräch mit Moritz Schularick, Chef des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft.
Die Presse: Die deutsche Wirtschaft schwächelt. Ein Stottern? Oder wird die einstige Wachstumsmaschine gerade zum kranken Mann Europas?
Moritz Schularick: Aktuell stottert die deutsche Wirtschaft. Damit die Volkswirtschaft in den nächsten Jahren wieder auf die Beine kommt, braucht es aber wirtschaftspolitische Weichenstellungen, die im aktuellen politischen Umfeld nur schwer umzusetzen sind. Wir sind uns in Deutschland – und auch in Österreich – bewusst, dass wir vor enormen Herausforderungen in puncto Klimawandel, Energietransformation, Digitalisierung, Demografie stehen, auch mit Blick auf die geoökonomische Situation. Diese Herausforderungen werden in Deutschland zur Krise, weil die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die Politik und die staatlichen Institutionen dem nicht gewachsen sind.
Welche Weichenstellungen?
Vor 20 Jahren war die Lösung, den Gürtel enger zu schnallen und sich aus der Krise herauszuexportieren. Das funktioniert heute nicht mehr. Wir haben kein China mehr, das wirtschaftlich boomt, und parallel zum Hauptabnehmer deutscher Exporte wird China selbst versuchen, sich aus seiner Krise herauszuexportieren, und das wird unsere Schwierigkeiten tendenziell noch vergrößern. Deutschland muss sich aus der Krise investieren. Unsere Exportabhängigkeit ist im aktuellen Umfeld ein Schwachpunkt.
Sie sprechen von Investitionen in Infrastruktur?
Wir müssen die Wachstumskräfte mobilisieren, die wir im Inland haben. Die gute Nachricht ist, dass gerade Deutschland in Bereichen wie Infrastruktur oder Digitalisierung dermaßen schlecht aufgestellt ist, dass man hier, wenn man es ordentlich macht, vermutlich einiges an Wachstumskräften freisetzen kann.
Wobei Deutschland wie auch Österreich ein demografisches Problem hat, das das Wachstum bremst. Daran werden Investitionen wenig ändern.
Die Demografie in Deutschland ist gnadenlos. Wenn wir nicht zu einem Wohlstandsmuseum werden wollen, sind wir darauf angewiesen, Hunderttausende Menschen gezielt in den Arbeitsmarkt zu holen. Wir brauchen gezielte Zuwanderung nicht, weil wir großherzig sind, sondern, weil sie uns nützt. Leider ist der Zuwanderungsdiskurs völlig vergiftet, weil hier gezielte Zuwanderung ständig mit humanitärer Zuwanderung vermischt wird.
Länder wie Deutschland und Österreich gelten bei Talenten aus Drittstaaten nicht als besonders attraktiv. Was machen Länder wie die Niederlande oder die Skandinavier besser?
Englischsprachige Länder sind natürlich im Vorteil. Aber die Skandinavier und Niederländer zeigen, dass Sprache kein so großes Hindernis sein muss. Bürokratie spielt in Deutschland eine Rolle. Und Teile der Bevölkerung haben noch nicht verstanden, dass wir auf gezielte Zuwanderung angewiesen sind. Die Alternative wäre gewesen, mehr Kinder zu haben. Jetzt ist es dafür zu spät.
Wobei Einwanderung einen Wandel der Gesellschaft bedeutet. Und der geht manchen Menschen zu schnell...
…da haben Sie recht. Aber Gesellschaften, die nicht schnell genug umdenken, haben einen Wettbewerbsnachteil. Wenn Deutschland und Österreich im Kopf zu langsam sind, wird man sich dort mit den ökonomischen Folgen davon auseinandersetzen müssen. Die spüren besonders auch diejenigen, die auf Pflege oder Betreuung angewiesen sind, also die Ältesten und die Jüngsten.
Zurück zu den Investitionen: Kann Europa diese im notwendigen Ausmaß überhaupt stemmen, ohne die Schuldenregeln aufzuweichen?
Dass der Staat Schulden aufnehmen kann, ist ökonomisch sinnvoll, wenn er damit Sachen finanziert, die künftigen Generationen zugutekommen. Das ist eine Art Generationenvertrag. Jetzt einfach die Schuldenregeln aufzuweichen, ohne dafür zu sorgen, dass die zusätzlichen Mittel in sinnvolle Investitionen fließen, wäre problematisch. Ein Problem wäre auch, wenn die Mittel, die sonst im normalen Haushalt schon für Investitionen vorgesehen waren, auf einmal in zusätzliche Sozialleistungen oder Pensionserhöhungen gehen. Anstatt uns in ewigen Grundsatzdebatten zu verlieren, sollten wir schauen, dass wir die Investitionsquote nachhaltig erhöhen.
Die Debatte um die Schuldenregeln ist auch vom gegenseitigen Misstrauen der Mitgliedstaaten geprägt. Wäre es besser, der EU mehr Mittel für gemeinsame Investitionen zu geben?
Selbst Deutschland ist global gesehen kein großer Player, nur als Europa sind wir kein Spielball in der
Weltpolitik. Weil wir nur gemeinsam stark sind, müssen wir gerade auch als Deutsche und Österreicher bereit sein, für den Wert, den Europa uns gibt, gewisse Risiken einzugehen und gewisse Kosten zu tragen. Im Bereich der Rüstungsindustrie und Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit bin ich explizit dafür, Brüssel mehr Mittel für gemeinsame Investitionen zu geben. Das ist eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam als Europäer leisten können und bei der ich Ausnahmen von den Fiskalregeln oder auch gemeinsame Schulden für richtig und sinnvoll halte. Wir können uns nicht mit der Schuldenbremse in der Hand vor Putin verteidigen.
China und die USA stecken massiv Geld in den Aufbau strategisch wichtiger Industrien. Kann die Europäische Union da mithalten, wenn alle Mitgliedstaaten ihre eigenen Industriestrategien fahren?
Wir haben in Europa den größten Binnenmarkt der Welt, nutzen aber die Skaleneffekte, die sich daraus ergeben, kaum. Amerikanische Firmen planen immer sofort für den kontinentalen Markt, wir haben in Europa in vielen wichtigen Bereichen noch immer national agierende Player. Die Fortführung, die Vertiefung und die Vollendung des Binnenmarkts sind für mich einer der ganz zentralen Pfeiler für mehr Resilienz in Europa. Also ja, es braucht eine gut durchdachte Antwort auf die Industriepolitik in den USA und in China. Aber wir sollten uns als Europäer auch nicht kleiner reden, als wir sind. So groß sind die Abhängigkeiten auch nicht. Wir müssen schauen, dass die grünen Zukunftstechnologien, bei denen Deutschland und Österreich teilweise führend sind, nicht abwandern.
Groß sind die Abhängigkeiten bei Rohstoffen etwa von China…
...wobei China auch von europäischer Technologie und europäischen Maschinen abhängt. Es gibt eine Reihe von Rohstoffen, bei denen China eine dominante Marktposition hat. Aber die ist nicht dominant, weil es die Rohstoffe nur in China gibt, sondern, weil China Fabriken aufgebaut hat und bereit ist, die teilweise hohen ökologischen Kosten der Gewinnung zu tragen. Europa könnte das auch, bei uns wäre es halt aufgrund ökologischer Auflagen ein bisschen teurer. Dort, wo tatsächliche Abhängigkeiten bestehen, müssen wir stärker diversifizieren.
Das hätten wir bei fossiler Energie auch tun sollen. Die große Abhängigkeit von Russland war ja mit ein Grund für die Energiekrise der vergangenen Jahre.
Ja, aber in solchen Krisen passieren auch faszinierende Dinge. Unternehmen in Deutschland ist aufgefallen, dass es vielfach auch ohne russisches Gas geht. Ähnliches ist 2010 in Japan passiert, als China aufgrund eines Konflikts aufgehört hat, seltene Erden nach Japan zu exportieren. Unternehmen ist aufgefallen, dass sie seltene Erden zum Teil nur deshalb benutzt haben, weil sie so billig waren. Auf einmal wurden sie teuer, und es wurden neue Lösungen gefunden. Außerdem hat Japan ein Recyclingsystem und damit eine Kreislaufwirtschaft in diesem Bereich aufgebaut. Die Importnachfrage für seltene Erden wurde so stark gedrosselt, dass sie aus nicht chinesischen Quellen gedeckt werden konnte.