Tragen burgenländische Schnecken das älteste Rot?
Forscher am Naturhistorischen Museum haben Schneckenschalen analysiert – und berichten von einem Superlativ, der grübeln lässt.
Die älteste Farbe Österreichs!“: Unter dieser Überschrift berichten Wissenschaftler des Naturhistorischen Museums Wien über ein Forschungsergebnis. Sie macht tatsächlich neugierig: Hat jemand den blutigen Mantel des Babenbergers Leopold V. gefunden, der laut Mythos Vorbild für das Rotweißrot der österreichischen Flagge war?
Nein, es handelt sich ja nicht um Historiker, sondern um Naturhistoriker, und die denken in anderen Zeiträumen. Diesfalls denken sie an Nadelschnecken, die vor zwölf Millionen Jahren am Ufer des Binnenmeeres lebten, das damals vom Wiener Becken bis zum Aralsee reichte. Nun hat man ihre Schalen am Rand des Wiener Beckens gefunden, in Schottergruben bei Nexing im Weinviertel und St. Margarethen im Burgenland.
Die uraltösterreichischen Schneckenschalen sind aus Aragonit, einem Kalziumkarbonat, und das war und ist farblos. Doch sie sind dennoch gefärbt, und zwar rötlich. Das verdanken sie Molekülen mit Doppelbindungen zwischen Kohlenstoffatomen. Genauer: Doppelbindungen, die sich mit Einfachbindungen abwechseln.
Polyene nennen die Chemiker diese Art von Molekülen. Wenn ein Polyen mehr als neun solche Doppelbindungen enthält, dann ist es farbig. Carotin etwa, das Karotten orange macht, hat elf davon. Lycopin, das Paradeiser rot färbt, hat 13.
Mit einer gängigen Analysemethode (Raman-Spektroskopie) konnten die Forscher – darunter auch ein Chemiker in Göttingen – nun nachweisen, dass die Schneckenschalen Moleküle mit solchen Doppelbindungen enthalten. Das heißt natürlich nicht, dass die Schnecken zu Lebzeiten Paradeiser oder Karotten gefressen haben. Unzählige Lebewesen synthetisieren Polyene, etwa Krebse. (Was in weitere Folge die Flamingos, die die Krebse fressen, rot färbt.) Die Forscher können auch nicht sagen, welche Polyene die Schalen genau enthalten. Nur dass es sich dabei um Polyene handelt, deren Anzahl an Doppelbindungen die Färbung erklären kann.
Immerhin sprechen die – im Fachjournal „Palaeontology“publizierten – Ergebnisse gegen andere, naheliegende Erklärungen der roten Färbung. Etwa dass diese von Eisenoxiden wie Hämatit komme. Eisen ist oft für rote Farbe verantwortlich – man denke an Hämoglobin, das eisenhaltige Molekül, das das Blut rot macht, auch das von babenbergischen Herzögen.
Die Polyene in den Schneckenschalen seien jedenfalls „tatsächlich zwölf Millionen Jahre nahezu unverändert erhalten geblieben“, erklären die Forscher. Warum sie das wundert? Moleküle mit Doppelbindungen sind nicht unbegrenzt stabil. An die Doppelbindungen können sich neue Atome anlagern. Das heißt: Solche Farbstoffe halten nicht ewig. Jede Karotte verliert einmal ihr Orange, man muss nur lange genug warten. Dieser Abbauprozess ist nicht notwendigerweise biologisch, er kann auch rein chemisch passieren. Aber alles Verrotten und Verwesen beruht letztlich auf dem Abbau organischer Moleküle.
Mineralische, anorganische Farben, die auf den Eigenschaften eines einzelnen Atoms beruhen, sind dagegen (wenn das Atom nicht radioaktiv zerfällt) im Prinzip ewig. Sie verblassen nicht – sollte man meinen. Aber auch bei ihnen kommt es auf die chemische Umgebung und auf die Oxidationsstufe an. Eisen etwa kann, wenn es in Form von Fe3+-Ionen auftritt, auch braun sein (wie in Rost) oder gar gelb (Limonit). So verliert auch Blut sein Rot und wird unscheinbar braun.
Es gibt dennoch gewiss genug Erde und Steine in Österreich, die durch ihren Eisengehalt seit wesentlich mehr als zwölf Millionen Jahren rot gefärbt sind. Das Hämatit am Roten Berg in Wien-Hietzing etwa stammt aus dem Zeitalter Jura, in dem noch Dinosaurier lebten. Insofern ist der Titel „Die älteste Farbe Österreichs“in den Augen eines I-Tüpfel-Reiters faktisch unrichtig. Gut ist er trotzdem. Denn hätten wir ohne ihn so lange über Schnecken, Doppelbindungen und das Wesen der Farbe nachgedacht?
Am Roten Berg in Hietzing gibt es wohl Erde, deren Rot älter ist als zwölf Millionen Jahre.