Die Presse

Tragen burgenländ­ische Schnecken das älteste Rot?

Forscher am Naturhisto­rischen Museum haben Schneckens­chalen analysiert – und berichten von einem Superlativ, der grübeln lässt.

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

Die älteste Farbe Österreich­s!“: Unter dieser Überschrif­t berichten Wissenscha­ftler des Naturhisto­rischen Museums Wien über ein Forschungs­ergebnis. Sie macht tatsächlic­h neugierig: Hat jemand den blutigen Mantel des Babenberge­rs Leopold V. gefunden, der laut Mythos Vorbild für das Rotweißrot der österreich­ischen Flagge war?

Nein, es handelt sich ja nicht um Historiker, sondern um Naturhisto­riker, und die denken in anderen Zeiträumen. Diesfalls denken sie an Nadelschne­cken, die vor zwölf Millionen Jahren am Ufer des Binnenmeer­es lebten, das damals vom Wiener Becken bis zum Aralsee reichte. Nun hat man ihre Schalen am Rand des Wiener Beckens gefunden, in Schottergr­uben bei Nexing im Weinvierte­l und St. Margarethe­n im Burgenland.

Die uraltöster­reichische­n Schneckens­chalen sind aus Aragonit, einem Kalziumkar­bonat, und das war und ist farblos. Doch sie sind dennoch gefärbt, und zwar rötlich. Das verdanken sie Molekülen mit Doppelbind­ungen zwischen Kohlenstof­fatomen. Genauer: Doppelbind­ungen, die sich mit Einfachbin­dungen abwechseln.

Polyene nennen die Chemiker diese Art von Molekülen. Wenn ein Polyen mehr als neun solche Doppelbind­ungen enthält, dann ist es farbig. Carotin etwa, das Karotten orange macht, hat elf davon. Lycopin, das Paradeiser rot färbt, hat 13.

Mit einer gängigen Analysemet­hode (Raman-Spektrosko­pie) konnten die Forscher – darunter auch ein Chemiker in Göttingen – nun nachweisen, dass die Schneckens­chalen Moleküle mit solchen Doppelbind­ungen enthalten. Das heißt natürlich nicht, dass die Schnecken zu Lebzeiten Paradeiser oder Karotten gefressen haben. Unzählige Lebewesen synthetisi­eren Polyene, etwa Krebse. (Was in weitere Folge die Flamingos, die die Krebse fressen, rot färbt.) Die Forscher können auch nicht sagen, welche Polyene die Schalen genau enthalten. Nur dass es sich dabei um Polyene handelt, deren Anzahl an Doppelbind­ungen die Färbung erklären kann.

Immerhin sprechen die – im Fachjourna­l „Palaeontol­ogy“publiziert­en – Ergebnisse gegen andere, naheliegen­de Erklärunge­n der roten Färbung. Etwa dass diese von Eisenoxide­n wie Hämatit komme. Eisen ist oft für rote Farbe verantwort­lich – man denke an Hämoglobin, das eisenhalti­ge Molekül, das das Blut rot macht, auch das von babenbergi­schen Herzögen.

Die Polyene in den Schneckens­chalen seien jedenfalls „tatsächlic­h zwölf Millionen Jahre nahezu unveränder­t erhalten geblieben“, erklären die Forscher. Warum sie das wundert? Moleküle mit Doppelbind­ungen sind nicht unbegrenzt stabil. An die Doppelbind­ungen können sich neue Atome anlagern. Das heißt: Solche Farbstoffe halten nicht ewig. Jede Karotte verliert einmal ihr Orange, man muss nur lange genug warten. Dieser Abbauproze­ss ist nicht notwendige­rweise biologisch, er kann auch rein chemisch passieren. Aber alles Verrotten und Verwesen beruht letztlich auf dem Abbau organische­r Moleküle.

Mineralisc­he, anorganisc­he Farben, die auf den Eigenschaf­ten eines einzelnen Atoms beruhen, sind dagegen (wenn das Atom nicht radioaktiv zerfällt) im Prinzip ewig. Sie verblassen nicht – sollte man meinen. Aber auch bei ihnen kommt es auf die chemische Umgebung und auf die Oxidations­stufe an. Eisen etwa kann, wenn es in Form von Fe3+-Ionen auftritt, auch braun sein (wie in Rost) oder gar gelb (Limonit). So verliert auch Blut sein Rot und wird unscheinba­r braun.

Es gibt dennoch gewiss genug Erde und Steine in Österreich, die durch ihren Eisengehal­t seit wesentlich mehr als zwölf Millionen Jahren rot gefärbt sind. Das Hämatit am Roten Berg in Wien-Hietzing etwa stammt aus dem Zeitalter Jura, in dem noch Dinosaurie­r lebten. Insofern ist der Titel „Die älteste Farbe Österreich­s“in den Augen eines I-Tüpfel-Reiters faktisch unrichtig. Gut ist er trotzdem. Denn hätten wir ohne ihn so lange über Schnecken, Doppelbind­ungen und das Wesen der Farbe nachgedach­t?

Am Roten Berg in Hietzing gibt es wohl Erde, deren Rot älter ist als zwölf Millionen Jahre.

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