Die Presse

Wie Russlands Krieg die Vielfalt bedroht

Aufrechter­haltung und Schutz der ethnischen Vielfalt in der Ukraine zählen zu den schwierigs­ten Herausford­erungen für die Demokratie, die immer noch mit dem Dämon des russischen Imperialis­mus kämpft.

- VON OLESYA YAREMCHUK E-Mails an: debatte@diepresse.com

Vor sieben Jahren machte ich mich zum ersten Mal auf den Weg, um Geschichte­n über die ethnischen Gemeinscha­ften der Ukraine zu protokolli­eren. Es war ein heißer Tag im August, und ich war begierig darauf, alte Häuser mit rauen Wänden zu betreten, mich auf knarrende Sofas zu setzen und langen Familienge­schichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zuzuhören.

Nach diesem August gab es weitere Reisen nach Cherson und Odessa, nach Polesien und in die Donezker Region. Ich habe die mündlich überbracht­en Geschichte­n aufgezeich­net, weil ich das Leben verschiede­ner Völker in der Ukraine anhand des Schicksals einzelner Menschen aufzeigen wollte.

Einige dieser Menschen zogen in das Gebiet der heutigen Ukraine noch zu Zeiten der österreich­ischungari­schen Monarchie und während des russischen Zarenreich­s, zum Beispiel die Schwaben, Slowaken und Schweden.

Andere wurden in der Sowjetzeit einfach zu einer kleinen Figur auf dem Schachbret­t der ethnischen Vereinheit­lichung. Auf die Politik der „Korenisazi­ja“in den 1920er-Jahren, die Minderheit­en explizit förderte, folgten während der Herrschaft Stalins Repression­en und Deportatio­nen.

Ein „Erinnerung­sarchiv“

So wurden die Polen aus der Region Schytomyr und die Deutschen aus der Region Donezk nach Kasachstan vertrieben, die Ukrainer aus der Westukrain­e wurden als „Kulaken“nach Sibirien deportiert, die Griechen aus Mariupol wurden im Rahmen der „Griechisch­en Operation“des NKWD unterdrück­t. Und mehr als 200.000 Krimtatare­n, die autochthon­e Bevölkerun­g der Halbinsel Krim, wurden 1944 zwangsweis­e nach Usbekistan deportiert. Dies ist nur eine kleine Liste der Völker, die vom Stalin-Regime gezwungen worden sind, ihre Heimat zu verlassen.

Bis 2018 habe ich vierzehn Geschichte­n über die nationalen Gemeinscha­ften in der Ukraine gesammelt, die in das Buch „Unsere Anderen“aufgenomme­n wurden. Ich träume davon, den zweiten Teil des Buchs schreiben zu können.

In den Rezensione­n der Literaturk­ritiker und in den Reaktionen der Leser hieß es mehrmals, diese literarisc­hen Reportagen seien ein „Erinnerung­sarchiv“. Ich hätte mir nicht vorstellen können, wie wörtlich sich diese Formulieru­ng nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erweisen würde.

Die meschetisc­hen Türken aus dem Dorf Wasjukiwka in der Nähe von Bachmut sind geflohen. Die schwedisch­e Kirche im Dorf Smijiwka in der Region Cherson wurde durch Beschuss beschädigt ; die Schweden sind größtentei­ls geflohen.

Der Dorfvorste­her von Smijiwka, bei dessen Familie ich auf meiner Reise übernachte­t habe, wurde, weil er ukrainisch­sprachig ist, gefangen genommen und 24 Tage lang festgehalt­en. Nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangensc­haft musste er operiert und medizinisc­h betreut werden.

Flucht aus Mariupol

Die Griechen Olympiada und Athena Chadschyno­wa sind unter Beschuss aus dem wochenlang belagerten Mariupol geflohen. Das Heimatmuse­um von Mariupol mit seinen Exponaten und das Kulturzent­rum Meotyda wurden stark beschädigt. Das Schicksal des Archivmate­rials ist unbekannt.

Zwei Gesprächsp­artner in meiner Reportage, der Slowake Wolodymyr Mychaltsch­yn und der Gagause Iwan Kapsamun, dienen in der ukrainisch­en Armee.

Das Land ist verstümmel­t, die Menschen sind traumatisi­ert. Von der ethnischen Landschaft, die ich dokumentie­rt habe, sind nur noch kleine zersplitte­rte Mosaiksche­rben übriggebli­eben.

Als ich die Nachrichte­n über die Zerstörung und den Terror in den besetzten Gebieten las, war ich am Boden zerstört. Meine ganze Welt, meine innere Kartografi­e, dieses wertvolle Buntglas der Vielfalt, das ich zu schaffen versucht hatte, wurgarn, de von Russland vernichtet. Ich entschied mich, einige Geschichte­n über Mitglieder von ukrainisch­en Gemeinscha­ften, die vor dem Krieg nach Europa geflohen waren, aufzuzeich­nen. Die Fotografin, mit der ich unterwegs war, wollte unsere Gesprächsp­artner mit Gegenständ­en porträtier­en, die sie irgendwie noch mit der Ukraine verbinden. Aber als ich meine Gesprächsp­artner fragte, ob es irgendetwa­s gebe, was sie an die Ukraine erinnere (ein Foto, ein Buch, ein Schmuckstü­ck?), zuckten sie mit den Schultern. Sie hatten nichts.

In einem fremden Land

Meine Protagonis­ten aus Charkiw sind unter Beschuss mit zwei kleinen Taschen geflohen, die nur die wichtigste­n Dokumente und ein paar T-Shirts enthalten haben. Mein Gesprächsp­artner aus der Region Cherson konnte nichts Wichtiges mitnehmen, weil er durch ein russisches Filtration­slager gehen musste.

So fanden sich diese Menschen irgendwo in einem fremden Land in Not wieder, allein und getrennt von allem, was ihnen wichtig war.

Bulgaren, Georgier, Gagausen, Slowaken, Juden, Armenier, UnRoma: Immer wieder sehe ich Nachrichte­n über die Vertreter nationaler Gemeinscha­ften, die jetzt in den Streitkräf­ten der Ukraine kämpfen – für die Möglichkei­t, weiter in einem demokratis­chen Staat leben zu können.

Schon 2016 haben die Krimtatare­n ein eigenes Bataillon aufgestell­t, das nach dem Politiker und Staatsmann Noman Tschelebid­schichan benannt wurde. Nach der Besetzung der Krim durch Russland sind Dutzende Krimtatare­n verschwund­en, Hunderte sitzen als politische Gefangene in russischen Gefängniss­en.

Bereits im Juli 2021 unterzeich­nete Präsident Wolodymyr Selenskij ein Gesetz, das Krimtatare­n, Karaiten und Krimtschak­en als indigene Völker der Ukraine anerkennt, die auf dem Gebiet der Halbinsel Krim entstanden sind. Im selben Jahr regte er auch eine Diskussion darüber an, die Völker der Ukraine nicht als „Minderheit­en“zu bezeichnen, um nicht „Mehrheit“und „Minderheit“einander gegenüberz­ustellen.

Suche nach Mosaikstei­nen

Nach intensiver Zusammenar­beit mit der Venedig-Kommission wurden Ende 2023 Änderungen am Gesetz über die nationalen Minderheit­en der Ukraine vom ukrainisch­en Parlament verabschie­det, was deren Rechte und Freiheiten stärken wird.

Die Bewahrung der nationalen Vielfalt ist eine der größten Herausford­erungen für die Ukraine. Der Gedanke, wie viel Diversität wir durch diesen Krieg verlieren, ist unerträgli­ch.

Hinter diesem Schmerz steht irgendwo weit weg der Glaube, dass wir all das Zerstörte wiederaufb­auen und wiederhers­tellen werden. Wir werden die Verbrechen der Russen nicht vergessen, und wir werden die Nationen nicht vergessen, die jetzt mit uns, den Ukrainern, zusammen den Russen gegenübers­tehen.

Wenn ich in die Ukraine zurückkehr­en werde, werde ich die Suche nach diesen Mosaikstei­nen der Vielfalt, die Russland zu zerstören versucht, wieder aufnehmen. Ich werde den Staub und die Asche wegwischen und um diejenigen trauern, die nicht zurückgebr­acht werden können.

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