Verhandlungen über Geisel-Abkommen spalten Israel
Zugeständnisse an Hamas zur Rettung der Entführten? In Israels Gesellschaft herrscht Uneinigkeit.
Eine vergitterte Tür, aus Stahl offenbar, vor einem schmalen Zimmer ohne Fenster. „Zum Einsperren von Menschen“, sagt der Soldat in dem Video, das Israels Armee, die IDF, kürzlich veröffentlicht hat. Zwölf solcher Zellen tief unter der Erde haben die IDF eigenen Angaben zufolge in den vergangenen Tagen gefunden. Die Armee geht davon aus, dass die Terroristen der Hamas dort israelische Geiseln festgehalten haben.
Rund 130 Menschen, die die Hamas bei ihrem Angriff vom 7. Oktober nach Gaza entführte, werden noch immer vermisst. Hinter den Kulissen verhandeln Israel und die Hamas seit Wochen um ein zweites Abkommen zur Befreiung der Entführten, ähnlich jener Einigung, bei der Ende vergangenen Jahres 105 Menschen aus der Geiselhaft freikamen.
Doch dieses Mal scheinen sich die Verhandlungen komplizierter zu gestalten. Zum einen stellt die Hamas offenbar höhere Forderungen als zuvor. Zum anderen spaltet die Frage, welchen Preis Israel für die Befreiung der Geiseln zahlen sollte, die Regierung, die Gesellschaft – und sogar die Angehörigen der Entführten selbst.
Rote Linie für Israel
Unter Vermittlung der USA, Katars und Ägyptens bildeten sich Berichten zufolge die Grundzüge eines Abkommens heraus. Demnach könnten in mehreren Phasen Dutzende Geiseln freikommen, im Gegenzug für eine mehrmonatige Kampfpause und die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Allerdings schien die Kluft zwischen den Positionen beider Seiten weiterhin tief. So forderte die Hamas eine dauerhafte Waffenruhe – für Israels Regierung eine rote Linie: Nach dem Massaker des 7. Oktober hatte sie die Entmachtung der Hamas in Gaza zum Kriegsziel erklärt. „Wahnhaft“nannte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Forderungen nach einem Ende der Kämpfe.
Kundgebungen für Geiseln
Die israelische Gesellschaft wiederum ist in dieser Frage gespalten. In einer Umfrage des Israel Democracy Institute, einer liberalen Denkfabrik, sprachen sich kürzlich 53 Prozent der linksgerichteten Befragten für ein Abkommen aus, bei dem die Geiseln im Austausch für ein Ende der Kämpfe und die Freilassung sämtlicher palästinensischer Häftlinge freikommen. Unter rechtsgerichteten Teilnehmern lag die Zustimmungsrate bei 24 Prozent.
Und nicht einmal die Angehörigen der Geiseln sind sich in dieser Frage einig. Die meisten fordern zwar ein Abkommen und organisieren unermüdlich Kundgebungen, Demonstrationen, Protestmärsche und andere Aktionen, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen.
Andere dagegen haben sich im TikvaForum organisiert, zu Deutsch Hoffnungsforum. „Wir haben am 7. Oktober genug gezahlt“, sagte der Vorsitzende Zvika Mor, dessen 23-jähriger Sohn Eitan entführt wurde, in einem Pressebriefing. „Es ergibt keinen Sinn, jetzt noch einmal zu zahlen und Tausende Terroristen freizulassen, die in den nächsten Jahren weitere Juden töten werden.“
Mor lebt in Kiryat Arba, einer israelischen Siedlung bei der palästinensischen Stadt Hebron im Westjordanland, bekannt als ultrarechte Hochburg. Dort wohnt auch Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke und Minister für nationale Sicherheit. Was ein Abkommen mit der Hamas betrifft, sind die beiden sich einig: Ben-Gvir droht, die Koalition zu verlassen, sollte Netanjahu sich auf einen „verantwortungslosen Deal“einlassen.
Auf der anderen Seite macht auch die zentristische Partei Nationale Union unter der Führung des ehemaligen Armeechefs Benny Gantz Druck: Sollte Netanjahu ein „akzeptables“Abkommen ausschlagen, werde die Partei ihrerseits aus der Regierung aussteigen.
Netanjahu neigt, zumindest rhetorisch, eher der härteren Linie zu – wohl auch, um seine rechtsreligiöse Koalition zusammenzuhalten. Gantz’ Nationale Union hatte sich lediglich für den Krieg der Regierung angeschlossen.
Es ergibt keinen Sinn, Tausende Terroristen freizulassen, die in den nächsten Jahren weitere Juden töten werden.
Zvika Mor, Vater eines israelischen Entführungsopfers
Blinkens mahnende Worte
Für viele der Geiseln indes könnte ein Abkommen bereits zu spät kommen. Das israelische Militär geht davon aus, dass 31 von ihnen nicht mehr am Leben sind. Laut Berichten der „New York Times“und des „Wall Street Journal“könnten israelischen Schätzungen zufolge jedoch sogar 50 tot sein.
Im Gazastreifen rücken die israelischen Truppen unterdessen weiter vor. In Khan Yunis, wo Israel die letzten Hamas-Basen vermutet, tobten Bodengefechte. Und die israelische Luftwaffe griff Ziele bei Rafah an der Grenze zu Ägypten an. Hierher sind Hunderttausende Einwohner des Gazastreifens geflohen. US-Außenminister Antony Blinken richtete eine Mahnung an Israels Führung: Die Entmenschlichung, die Israel bei dem Massaker der Hamas erlebt habe, könne „kein Freibrief“sein, selbst andere zu entmenschlichen, sagte der US-Außenminister vor Journalisten in Tel Aviv.