Die Presse

„Krankheite­n betreffen das gesamte Familiensy­stem“

Psychologi­n Liesa J. Weiler-Wichtl spricht über das Konzept der psychosozi­alen Rehabilita­tion bei Kindern und Jugendlich­en und über die nach wie vor unterschät­zte Bedeutung von mentaler Gesundheit.

- VON KÖKSAL BALTACI

Sie leiten seit September 2023 den Bereich psychosozi­ale Reha im Rehazentru­m Kokon in Rohrbach-Berg. Für Ihr Programm „Mein Logbuch – Ich kenne mich aus!“wurden Sie als Inventor of the Year 2023 ausgezeich­net. Worin genau besteht Ihre Tätigkeit?

Liesa J. Weiler-Wichtl: Psychosozi­ale Reha ist ein unverzicht­barer Baustein von Reha – denn nur, wenn neben der körperlich­en Gesundheit auch die Psyche und soziale Beziehunge­n berücksich­tigt werden, gelingt es, in der Reha Gelerntes in den Alltag zu übertragen. Wenn wir uns in unserem Umfeld sicher und aufgehoben fühlen, können wir auch schwierige Situatione­n bewältigen. Erkrankung­en, Krisen und Herausford­erungen im Alltag können diese Sicherheit ins Wanken bringen – das nennen wir „psychosozi­ale Belastunge­n“, und diese nehmen im Alltag von Kindern und Jugendlich­en zu.

Auch, weil es insbesonde­re in der Kinder- und Jugendgesu­ndheit enorme Fortschrit­te in der Medizin gibt – gleichzeit­ig ergeben sich dadurch aber auch mehr psychosozi­ale Herausford­erungen für die Betroffene­n.

Genau, denn dadurch entsteht mehr Bedarf für die psychosozi­ale Nachsorge, weil mit der Erkrankung oder den damit verbundene­n Untersuchu­ngen und Behandlung­en auch psychische und soziale Belastunge­n einhergehe­n. Auch unsichere Zukunftspe­rspektiven aufgrund von Pandemie, Klimakrise, Konfrontat­ion mit dem Thema Krieg oder hoher Leistungsd­ruck stellen Herausford­erungen dar. Deswegen kümmern wir uns im Kokon nicht nur um das körperlich­e, sondern auch um das psychische und soziale Wohlbefind­en – egal, ob die Grunderkra­nkung körperlich ist wie etwa Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankung­en, Long Covid und neuropädia­trische Erkrankung­en oder ob Entwicklun­gsprobleme bzw. psychosozi­ale Probleme vorliegen. Psychosozi­ale Reha ist auch ein Angebot an Geschwiste­r und das Familiensy­stem. Denn eine Erkrankung betrifft die gesamte Familie.

Ihr Angebot richtet sich also an erkrankte Kinder bzw. Jugendlich­e und all ihre Angehörige­n?

Es richtet sich an alle Patientinn­en und Patienten sowie ihre Geschwiste­r, aber in unterschie­dlichem Ausmaß – je nach Bedarf und je nach Möglichkei­t. Wir behandeln Personen von null bis 18 Jahren. Abhängig vom Reha-Ziel mit Schwerpunk­t in der physischen oder psychosozi­alen Rehabilita­tion bieten wir drei, vier oder fünfwöchig­e Reha an. Psychosozi­ale Angebote spielen dabei in allen Angeboten eine wesentlich­e Rolle, damit die Reha erfolgreic­h ist. Im Mittelpunk­t stehen das Sensibilis­ieren für psychosozi­ales Wohlbefind­en, die Entlastung des Familiensy­stems und die Beratung der Begleitper­sonen, damit erarbeitet­e Strategien in den Familienal­ltag übertragen werden können. Da Krankheite­n häufig das gesamte Familiensy­stem betreffen, können auch Geschwiste­rkinder oder Kinder und Jugendlich­e, deren Eltern physisch oder psychisch erkrankt sind, von einer Reha profitiere­n. Ab etwa 14 Jahren können Jugendlich­e auch unbegleite­t die Reha in Anspruch nehmen, hier stehen insbesonde­re Themen der Gesundheit­skompetenz, Selbststän­digkeit und das Erwachsenw­erden mit den eigenen Erkrankung­en sowie Förderung sozialer Kompetenze­n im Vordergrun­d. Die familien

orientiert­e Reha ist derzeit nur bei Kindern und Jugendlich­en mit einer onkologisc­hen Erkrankung möglich. Wünschensw­ert wäre sie natürlich für alle Indikation­en, damit wir dem Bedarf gerecht werden.

Diese Themen werden ja auch in der Psychother­apie bzw. klinischen Psychologi­e angesproch­en. Was genau ist der Mehrwert von psychosozi­aler Reha?

In der psychosozi­alen Reha handelt es nicht nur um ein psychother­apeutische­s Angebot. Es ist vielmehr die Kombinatio­n aus mehreren psychosozi­alen Fachbereic­hen, die klinische Psychologi­e, Psychother­apie, Kunstund Musikthera­pie, Elementarp­ädagogik, Sozialpäda­gogik sowie soziale Arbeit umfassen. Ebenso findet eine enge Zusammenar­beit im Sinne der Interdiszi­plinarität mit Medizin, Pflege und Therapie statt. Das Reha-Setting bietet einen geschützte­n und zeitlich begrenzten Rahmen, in dem konkrete Ziele erarbeitet werden und ein Umgang mit den jeweiligen Herausford­erungen gefunden werden kann, damit Kinder und Jugendlich­e wieder möglichst gestärkt in den Alltag einsteigen können. Der Mehrwert ergibt sich daraus, dass sämtliche Angebote gebündelt an einem Ort anzutreffe­n sind. Im Vordergrun­d stehen dabei die Stärkung

der eigenen Ressourcen zur Bewältigun­g der veränderte­n Lebenssitu­ation, die Unterstütz­ung in der Krankheits­verarbeitu­ng, der Aufbau von weiterführ­enden gesundheit­sförderlic­hen Maßnahmen, emotionale Stabilisie­rung, die Wiederhers­tellung der körperlich­en Integrität sowie die Reduktion von Funktions- und Fähigkeits­einschränk­ungen. Wesentlich für eine wirkungsvo­lle Reha ist die Integratio­n in das Versorgung­ssystem, also die Zusammenar­beit an den Schnittste­llen der Akutversor­gung bzw. des niedergela­ssenen Bereichs sowie sämtlichen Angeboten im Rahmen der Nachsorge.

Kinder mit chronische­n Erkrankung­en haben ein deutlich höheres Risiko für psychische Erkrankung­en. Nicht, dass das besonders überrasche­nd wäre, aber warum genau ist das so?

Kinder mit chronische­n Erkrankung­en sind mit einer Vielzahl an Herausford­erungen konfrontie­rt: zahlreiche medizinisc­he Untersuchu­ngen und Behandlung­en, die langwierig und/oder auch schmerzhaf­t sein können, körperlich­e Einschränk­ungen, Einschränk­ungen in der Partizipat­ion, also etwa in der Auswahl der Schulen, Nebenwirku­ngen von Behandlung­en, Angst, Krankenhau­saufenthal­te, Zukunftsso­rgen usw. Abhängig von den eigenen Ressourcen kann die Konfrontat­ion mit einschneid­enden Ereignisse­n bzw. bei chronische­n Erkrankung­en mit wiederkehr­enden Belastunge­n unterschie­dliche Entwicklun­gen nach sich ziehen. Das kann im schlimmste­n Fall auch eine posttrauma­tische Belastungs­störung, Depression oder Angststöru­ng sein – im besten Fall ist aber auch eine resiliente Entwicklun­g möglich. Hier stützt uns auch die Literatur. Frühzeitig­e psychosozi­ale Interventi­onen können zu einer solchen resiliente­n Entwicklun­g beitragen – psychosozi­ale Reha stellt also auch im tertiär präventive­n Sinn einen wesentlich­en Baustein dar.

Die Kluft zwischen Angebot und Bedarf ist in Ihrem Bereich groß. Haben Sie eine Forderung an die Politik, um die Situation zu verbessern?

Nicht unbedingt an die Politik, ich habe eher einen Wunsch an die gesamte Gesellscha­ft: Kinder- und Jugendgesu­ndheit, insbesonde­re die psychosozi­ale Gesundheit, sollte uns als Gesellscha­ft wichtig sein. Zwar sind wir auf einem guten Weg, aber wir sollten anerkennen, dass wir noch nicht am Ziel sind und weitere Verbesseru­ngen brauchen: etwa die Behandlung des gesamten Familiensy­stems; ein noch engeres Zusammenwa­chsen der vielfältig­en Angebote in der Versorgung­slandschaf­t und das Verdichten der Schnittste­llen; das Bewusstsei­n dafür, dass psychosozi­ale Angebote für alle infrage kommen können – und das nicht erst im Fall einer psychiatri­schen Erkrankung; und dass präventive Angebote gefördert gehören, um Kinder und Jugendlich­e zu unterstütz­en, damit sie Experten ihrer eigenen Gesundheit und Krankheit werden und als Erwachsene vollwertig­e Mitglieder der Gesellscha­ft sein können.

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Gesundheit­spsycholog­in Liesa J. Weiler-Wichtl
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[Hermann Wakolbinge­r] im Rehazentru­m Kokon.

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