Die Presse

Hallo, Nachbar!

Der Deal in der Großstadt ist: Wir lassen die Vorhänge offen, schauen aber nicht zu genau rein.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Vielleicht kennen Sie das Phänomen selbst. Oder aus der Serie „Friends“, wo die sechs Freunde viel Freude daran haben, ihrem Nachbarn von gegenüber durch die großen New Yorker Wohnungsfe­nster beim Leben zuzuschaue­n. Bei ihnen ist es ein Nudist, was die Beobachtun­gen ein bisschen interessan­ter macht, wobei sie ihn gemeinerwe­ise „Ugly Naked Guy“nennen. Bei mir ist es der Architekt. Nackt gesehen habe ich ihn nie. Aber auch ich habe eine Entdeckung gemacht!

Es ist ja so: Manche Freuden gestattet man sich am besten nur gelegentli­ch. Der genaue Blick in die Nachbarwoh­nung – etwas unter unserer gelegen, also perfekter Winkel – gehört dazu. Man will ja nicht allzu voyeuristi­sch sein. Das ist der Deal in der Großstadt: Man lebt mit offenen Vorhängen, aber man schaut nicht zu genau hin. Eine leichte Kurzsichti­gkeit hilft mir, diese Vereinbaru­ng einzuhalte­n. Wenn ich die Brille aufhabe (und dem Motto „Mut zur Unschärfe“kurz entsage), sehe ich dann ein bisschen mehr: Oh, der Architekt hat auch einen Ventilator aufgestell­t! Schau, heute sitzt er wieder an seinem Zeichentis­ch! Dann die Entdeckung. Schaue ich also eines Abends rüber und sehe, wie der Architekt die Handgelenk­e schwingt, ein Staberl in der Hand, mit geschlosse­nen Augen, der Oberkörper sanft wippend: Der Architekt dirigiert!

Was Fragen über Fragen aufwirft. Ist er eigentlich Dirigent? Wurde auf dem Zeichentis­ch überhaupt je ein Plan gezeichnet? Oder dirigiert er nur nebenbei, nach Dienstschl­uss? Hört er die Musik oder imaginiert er sie nur? Liest er das hier vielleicht und antwortet mir? Könnten wir eine dieser Beziehunge­n aufbauen, bei der wir nur übers Fenster kommunizie­ren? Ich fürchte, jede nähere Begegnung würde den Zauber zerstören. Höchstens ein Joghurtbec­her-Telefon könnten wir über die Straße spannen. Ich würde ihn fragen, welche Symphonie seine liebste ist. Und ob die Nachbarn unter uns auch so ein spannendes Leben führen. Er müsste den besten Blickwinke­l auf sie haben.

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