Auswanderland wird zum Einwanderziel
Die Abwanderung der Fachkräfte lässt Kroatien verstärkt auf asiatische Arbeitsimmigranten setzen. In Mitteleuropa sind kroatische Gastarbeiter gefragt. Mit dem Wandel mehren sich die fremdenfeindlichen Töne.
Belgrad/Zagreb. Alljährlich pflegen Kroatiens Demografen und Politiker ihr Klagelied über die schrumpfende Bevölkerung, die anhaltende Emigration und die sinkenden Geburtenraten im Adria-Staat anzustimmen. Doch über die Neubürger, die in der Silvesternacht auf dem Zagreber Ban-Jelačić-Platz gemeinsam mit den Ureinwohnern zu Hunderten fröhlich das neue Jahr feierten, schienen sich keineswegs alle Hauptstadtbewohner zu freuen.
„Dies ist traurig und hässlich“, erregte sich vor der Kamera des Webportals index.hr ein Mann über die Neujahrsfeier mit den Neu-Zagrebern aus Nepal und Indien: „Einheimische sind arbeitslos und werden aus dem Vaterland vertrieben. Und Fremde übernehmen ihren Platz – und ihre Privilegien.“Andere reagierten eher gelassen. Ihn würden die Ausländer „nicht stören“, so ein Rentner: Er sei zwar „Purger“, ein Zagreber: „Aber ich bin nicht beschränkt.“
Aderlass der Fachkräfte
Es ist die seit Kroatiens EU-Beitritt von 2013 stark angezogene Abwanderung heimischer Arbeitskräfte nach Westen, die Kroatiens Arbeitgeber verstärkt auf die Anwerbung von Nicht-EU-Ausländern setzen lässt. Zunächst wurden die offenen Stellen auf dem Bau, in der Gastronomie und in der Transportbranche vor allem mit Saisonarbeitern
aus den ex-jugoslawischen Bruderstaaten Bosnien und Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien und dem Kosovo besetzt.
Doch nun wird die Arbeitskraft ausgerechnet beim GastarbeiterExporteur Kroatien dringend gesucht. Denn der Lockruf der besseren Bezahlung zieht mittlerweile die Fachkräfte der ärmeren Nachbarn oft lieber nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz als zum nahen EU-Neuling. Stark vermehrt hat sich hingegen die Zahl der Arbeitsimmigranten aus Asien: Für die Zuwanderer aus dem Fernen Osten sind zur Versorgung ihrer Familien in der Heimat selbst
Nettolöhne zwischen 600 und 800 Euro noch attraktiv.
Seit 2021 hat sich die Zahl der ausgestellten Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Ausländer mit zuletzt 172.499 (2023) mehr als verdreifacht. Unter den knapp 113.000 Arbeitsbewilligungen für neu angeworbene Beschäftigte stellen die Nachbarn Bosnien und Herzegowina (38.236) und Serbien (24.028) 2023 zwar weiter das größte Kontingent. Aber danach folgen bereits Nepal (23.493) und Indien (15.627) – vor Nordmazedonien, Philippinen, Kosovo und Bangladesch.
Schon jetzt machen Ausländer neun Prozent der Beschäftigten in
Kroatien aus. Der sich verschärfende Arbeitskräftemangel sowie die geplante Verlängerung der Arbeitsgenehmigungen von einem auf drei Jahre dürften die Zahl der Arbeitsimmigranten in den kommenden Jahren noch vergrößern. Doch mit dem Wandel vom Auswanderland zum Einwanderziel mehren sich die Integrationsherausforderungen sowie fremdenfeindliche Töne – und Übergriffe.
Meldungen über rassistisch motivierte Raubüberfälle auf asiatische Pizzakuriere in der Hauptstadt sind mit wilden Gerüchten in den sozialen Medien über von Ausländern entführte oder missbrauchte
Kinder sowie mit xenophoben Ausfällen rechter Stimmenjäger gepaart: Kroatiens Ausländerdebatte droht auch die nahenden Parlamentsund Präsidentschaftswahlen zu überschatten.
4.000.000 Kroaten seien nach Westeuropa „vertrieben“, dafür fast 200.000 ausländische Arbeiter zur Hälfte aus „fernen asiatischen Ländern eingeführt“worden, wetterte Marijan Pavliček, Abgeordneter von Kroatiens rechtspopulistischen Souveränisten (HS), im Parlament „Wir haben einen Prozess des Bevölkerungsaustauschs, der schon seit Jahren andauert.“
Gefahr der Ghettobildung
Zwar berichten heimische Medien regelmäßig über asiatische Fahrradkuriere, Küchenhelferinnen oder Verkäuferinnen, die in mehr oder weniger flüssigem Kroatisch höflich ihr Gastland, ihre Jobs oder Arbeitgeber preisen. Doch auch wegen fehlender Integrationsstrategien kann von einem harmonischen Miteinander im Neueinwanderland nicht immer die Rede sein.
Vor der Gefahr einer Ghettobildung und der Schaffung von Parallelwelten der häufig in ebenso beengten wie isolierten Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Arbeitssöldner warnen besorgte Fachleute. Den Mangel an nationalen Integrationskonzepten versuchen Kommunen wie Zagreb oder Varaždin nun mit der Organisation von gratis Sprachkursen für die Neuankömmlinge zu kompensieren.