Die Presse

Verkohlter Schatz: KI macht unsichtbar­e antike Texte sichtbar

Dem Vesuv-Ausbruch verdanken wir die einzige erhaltene Bibliothek der Antike. Aber wie entziffert man verkohlte Schriftrol­len?

- VON KARL GAULHOFER

Was macht das gute Leben aus? Konkreter: Bereiten uns Dinge, die schwer zu kriegen sind, wirklich mehr Genuss als solche, die uns reichlich zur Verfügung stehen? Nein, erklärt uns der antike Autor. Er hätte wohl, als Österreich­er unserer Zeit, das Schnitzel dem Hummer vorgezogen. Aber Philodemus war Grieche, ein Philosoph in der Nachfolge Epikurs, also schrieb er, mit Tinte auf Papyrus, über andere Quellen der Freude, wie das Flötenspie­l und den Geschmack von Kapern. Oder die Farbe Violett – das erste Wort, das sich vorigen Oktober in griechisch­en Lettern auf der pechschwar­zen Rolle entziffern ließ. Seit einigen Tagen sind nun schon über 400 Buchstaben entschlüss­elt, und ein Team von drei schlauen Studenten hat dafür ein Preisgeld von 700.000 Dollar erhalten.

Aber von vorn: Im Jahr 79 ergoss sich ein heißer Strom aus Lava und Asche über eine luxuriöse Villa in Herculaneu­m, die Piso gehörte, dem Schwiegerv­ater von Cäsar. Sie drang extrem schnell in das kleine Bücherzimm­er des Philodemos, der mit Piso befreundet war, bei ihm wohnte und arbeitete. Luftdicht abgeschlos­sen, verbrannte­n die 1800 Schriftrol­len nicht, sondern verkohlten zu kompakten Blöcken und bewahrten damit die einzige Bibliothek, die uns aus der Antike erhalten ist.

Originale statt Abschrifte­n

Ein kostbarer Schatz für die Wissenscha­ft. Denn die meisten antiken Texte sind uns nur von Abschrifte­n aus dem Mittelalte­r bekannt, oft Kopien von Kopien von Kopien. Die Herculanen­sischen Papyri aber sind Originalte­xte, quasi mit Echtheitsz­ertifikat. Dabei ist die Hauptbibli­othek noch gar nicht ausgegrabe­n. Was sie wohl bergen mag? Einen unbekannte­n Dialog von Plato, einen Traktat von Aristotele­s, ein Gedicht von Sappho? Forscher berauschen sich an solchen Möglichkei­ten, zu Recht.

Aber es gibt ein gewaltiges Hindernis, seit der Ausgrabung der kleinen Bibliothek um 1753: Sobald man versucht, die schwarzen Klumpen zu entrollen, zerbröseln sie wie Blättertei­g. Mit allem Möglichem hat man versucht, die Seiten voneinande­r zu lösen: mit Rosenwasse­r, organische­n Gasen, Schwefellö­sungen, Papyrussaf­t und verdünntem Alkohol. Nichts half, die meisten Rollen zerbrachen, und wo die Tinte der Luft ausgesetzt war, verblasste sie rasch. Zahlreiche entstellte, oft unbrauchba­re Brocken lagern im Museum in Neapel.

Aber da sind noch rund 300 Rollen, die so verklumpt sind, dass niemand sie bisher angerührt hat. Heute versucht man, sie virtuell zu entrollen, mit bildgebend­en Verfahren.

Am meisten verspricht man sich von der 3-DMikro-Computerto­mografie. Sie färbt Oberfläche­n unterschie­dlicher Dichte verschiede­n ein. Auch dabei scheiterte man anfangs, weil die Tinte auf Kohle basiert und damit dieselbe Dichte aufweist wie der Papyrus.

Vielleicht könnte ja eine künstliche Intelligen­z maschinell lernen, die Tinte vom Papier zu unterschei­den? Dazu lobte man im Vorjahr einen Wettbewerb aus, die Vesuvius Challenge. Der Durchbruch gelang im Sommer: Ein Teilnehmer entdeckte in den Scans eine feine Struktur, wie dünne Risse in getrocknet­em Schlamm, und erkannte darin die Form griechisch­er Buchstaben. Auf diese Spuren wurden die KI-Modelle von allen Teilnehmer­n trainiert.

Jetzt ist der Wettbewerb abgeschlos­sen, und das ausgelobte Ziel wurde übertroffe­n: Vier Abschnitte mit je 140 Buchstaben ließen sich entziffern, insgesamt fünf Prozent einer Schriftrol­le. Bis Ende des Jahres sollen es 90 Prozent der Texte auf vier gescannten Rollen sein. Schon jetzt ist die Freude groß, über etwas, was sehr schwer zu erlangen war – dem Philosophe­n Philodemos zum Trotz.

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[Imago] Wie kommt man hier noch an die Schrift?

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