Verkohlter Schatz: KI macht unsichtbare antike Texte sichtbar
Dem Vesuv-Ausbruch verdanken wir die einzige erhaltene Bibliothek der Antike. Aber wie entziffert man verkohlte Schriftrollen?
Was macht das gute Leben aus? Konkreter: Bereiten uns Dinge, die schwer zu kriegen sind, wirklich mehr Genuss als solche, die uns reichlich zur Verfügung stehen? Nein, erklärt uns der antike Autor. Er hätte wohl, als Österreicher unserer Zeit, das Schnitzel dem Hummer vorgezogen. Aber Philodemus war Grieche, ein Philosoph in der Nachfolge Epikurs, also schrieb er, mit Tinte auf Papyrus, über andere Quellen der Freude, wie das Flötenspiel und den Geschmack von Kapern. Oder die Farbe Violett – das erste Wort, das sich vorigen Oktober in griechischen Lettern auf der pechschwarzen Rolle entziffern ließ. Seit einigen Tagen sind nun schon über 400 Buchstaben entschlüsselt, und ein Team von drei schlauen Studenten hat dafür ein Preisgeld von 700.000 Dollar erhalten.
Aber von vorn: Im Jahr 79 ergoss sich ein heißer Strom aus Lava und Asche über eine luxuriöse Villa in Herculaneum, die Piso gehörte, dem Schwiegervater von Cäsar. Sie drang extrem schnell in das kleine Bücherzimmer des Philodemos, der mit Piso befreundet war, bei ihm wohnte und arbeitete. Luftdicht abgeschlossen, verbrannten die 1800 Schriftrollen nicht, sondern verkohlten zu kompakten Blöcken und bewahrten damit die einzige Bibliothek, die uns aus der Antike erhalten ist.
Originale statt Abschriften
Ein kostbarer Schatz für die Wissenschaft. Denn die meisten antiken Texte sind uns nur von Abschriften aus dem Mittelalter bekannt, oft Kopien von Kopien von Kopien. Die Herculanensischen Papyri aber sind Originaltexte, quasi mit Echtheitszertifikat. Dabei ist die Hauptbibliothek noch gar nicht ausgegraben. Was sie wohl bergen mag? Einen unbekannten Dialog von Plato, einen Traktat von Aristoteles, ein Gedicht von Sappho? Forscher berauschen sich an solchen Möglichkeiten, zu Recht.
Aber es gibt ein gewaltiges Hindernis, seit der Ausgrabung der kleinen Bibliothek um 1753: Sobald man versucht, die schwarzen Klumpen zu entrollen, zerbröseln sie wie Blätterteig. Mit allem Möglichem hat man versucht, die Seiten voneinander zu lösen: mit Rosenwasser, organischen Gasen, Schwefellösungen, Papyrussaft und verdünntem Alkohol. Nichts half, die meisten Rollen zerbrachen, und wo die Tinte der Luft ausgesetzt war, verblasste sie rasch. Zahlreiche entstellte, oft unbrauchbare Brocken lagern im Museum in Neapel.
Aber da sind noch rund 300 Rollen, die so verklumpt sind, dass niemand sie bisher angerührt hat. Heute versucht man, sie virtuell zu entrollen, mit bildgebenden Verfahren.
Am meisten verspricht man sich von der 3-DMikro-Computertomografie. Sie färbt Oberflächen unterschiedlicher Dichte verschieden ein. Auch dabei scheiterte man anfangs, weil die Tinte auf Kohle basiert und damit dieselbe Dichte aufweist wie der Papyrus.
Vielleicht könnte ja eine künstliche Intelligenz maschinell lernen, die Tinte vom Papier zu unterscheiden? Dazu lobte man im Vorjahr einen Wettbewerb aus, die Vesuvius Challenge. Der Durchbruch gelang im Sommer: Ein Teilnehmer entdeckte in den Scans eine feine Struktur, wie dünne Risse in getrocknetem Schlamm, und erkannte darin die Form griechischer Buchstaben. Auf diese Spuren wurden die KI-Modelle von allen Teilnehmern trainiert.
Jetzt ist der Wettbewerb abgeschlossen, und das ausgelobte Ziel wurde übertroffen: Vier Abschnitte mit je 140 Buchstaben ließen sich entziffern, insgesamt fünf Prozent einer Schriftrolle. Bis Ende des Jahres sollen es 90 Prozent der Texte auf vier gescannten Rollen sein. Schon jetzt ist die Freude groß, über etwas, was sehr schwer zu erlangen war – dem Philosophen Philodemos zum Trotz.