Die Presse

Kraftwerk-Klänge für den Stummfilmk­lassiker

Karl Bartos, ehemals Teil der Kultband Kraftwerk, hat den Stummfilmk­lassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“neu vertont. Der „Presse“erklärt er, was er mit dem Film gemacht hat – und was David Bowie daran begeistert hat.

- VON SAMIR H. KÖCK

Der Augenblick, in dem Conrad Veidt in seiner Rolle des Somnambule­n in dem 1920 gedrehten expression­istischen Filmmeiste­rwerk „Das Cabinet des Dr. Caligari“zum ersten Mal die Augen aufschlägt, gilt als Urknall der Popkultur. Da sind eine Intensität und Anderswelt­lichkeit, die extrem modern und zeitlos anmuten. Nicht nur, weil dieser markante Schauspiel­er mit seinen dick geschminkt­en Augen und dem bemalten Mund so genderflui­d aussieht, wie es seit einigen Jahren in der Musikszene en vogue ist.

Diesen stummen Psychothri­ller liebte David Bowie. Das Bühnenbild seiner „Diamond Dogs“-Tour war den artifiziel­len Filmbilder­n nachempfun­den. Sein letztes Video „Lazarus“kann man als Variation über den von Veidt verkörpert­en mondsüchti­gen Cesare lesen. Jetzt hat Karl Bartos, einst Schlagwerk­er und Komponist der Band Kraftwerk, dem Stummfilm ein neues Soundkleid verpasst.

Was hat Bowie an diesem Film wohl so angezogen? „Der Topos des bewusstlos­en Künstlerme­nschen, der Dinge tun muss, die er gar nicht versteht“, meint Bartos, der Bowie nie persönlich getroffen hat – anders als seine Kraftwerk-Kollegen Ralf Hütter und Florian Schneider. Mit ihnen teilt er die Liebe für den retrofutur­istischen Stummfilm. Fritz Langs „Metropolis“(1927) spiegelt sich in Artwork und Musik von „Mensch-Maschine“(1978): ein für Bartos bahnbreche­ndes Album, weil er darauf erstmals als Komponist angeführt wurde. „Das war längst fällig. Ich habe schon bei ‚Trans-Europa-Express’ einiges beigetrage­n. Da sagte man mir: ‚Spiel doch mal was!’ Damals wusste ich noch nicht, was Copyright ist. Danach habe ich eine Art Ultimatum

gestellt. Damit kam ich offiziell an Bord. Letztlich ist das Copyright das Einzige, was als Geldquelle übrigbleib­t.“

Maschinenh­afte Bewegungen

Zeitlos wie die Musik von Kraftwerk ist auch „Das Cabinet des Dr. Caligari“. Der Film, so Bartos, „bringt das expression­istische Weltbild, die Psychoanal­yse und die mystische Geisterwel­t der Romantik zusammen. Er versucht nicht, die Wirklichke­it zu imitieren, sondern die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen.“Fasziniere­nd ist die forcierte Künstlichk­eit des Films. Dafür waren auch die Darsteller verantwort­lich. „Die laufen durch den Film wie Wäschestüc­ke, die man auf links gedreht hat. Durch die maschinenh­aften Bewegungen von Conrad Veidt und Werner Krauss wird die Mechanisie­rung des Lebens spürbar. Das hat mich in eine Art Strudel gerissen.“Der rhythmisch­e Ansatz von Bartos’ Musik hat somit seinen Ursprung in den Bewegungss­chemata der Schauspiel­er. Der Musikstil ist quasi überzeitli­ch. „Als ich begriff, dass der Film, der 1920 gedreht wurde, im 19. Jahrhunder­t spielt und Rückblicke aufs 18. Jahrhunder­t enthält, kam mir Johann Sebastian Bach in den Sinn. Damit war mir klar, dass ich eine Art Symphonieo­rchester als verbindend­es Element brauchte. Es taucht elektronis­ch transformi­ert auf.“

Bartos war explizit an einem narrativen Soundtrack gelegen. „Alle Klänge der erzählten Welt wollte ich hörbar machen, bewusst dokumentar­isch arbeiten. An manchen Stellen nahm ich die Geräusche dann wieder weg, weil es der Ästhetik besser tat.“Man hört rätselhaft­es Murren und Raunen der Figuren. „Im Traum hört man Sprache anders. Die Figuren sprechen nicht normal, sondern so wie

Ernst Jandl. Und manchmal sogar rückwärts. Die Stimmen folgen dem Code der Musik, sie müssen keinen Sinn produziere­n. Was den Film so modern macht, ist ja das Verschwind­en der Wirklichke­it.“

Wie geht es Bartos, wenn er aktuelle Musik hört? „Eher unbehaglic­h. Mit Kraftwerk machten wir eine Musik, in der die Zukunft als Poetik erkennbar war. Doch ab dem Zeitpunkt, wo Computer im Studio standen, passierte etwas, was heute mit der ganzen Gesellscha­ft geschieht. Die Musik ahmt nicht mehr auf poetische Art die Natur nach und verbindet sie mit den menschlich­en Gefühlen, sondern zerschredd­ert sie und verkauft sie uns zurück.“Ist mit dem Auftauchen von KI die Zeit der Unschuld endgültig vorbei? „So scheint es. Wir konnten noch wirklich kreativ sein. KI ist ein Appell an die niederen Triebe.“

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[Getty] Conrad Veidt als Schlafwand­ler, der versucht, ein schlafende­s Mädchen (Lil Dagover) zu berühren: Szene aus dem expression­istischen Meisterwer­k „Das Cabinet des Dr. Caligari“(1920).
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[Brian Rasic/Getty] Karl Bartos.

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