Die Presse

So lauschig kann Schwermut sein

Kino. In Andrew Haighs melancholi­schem Liebesdram­a „All of Us Strangers“knistert es zwischen den Shootingst­ars Andrew Scott und Paul Mescal: ein kleines Kinoereign­is.

- VON ANDREY ARNOLD

Auf einmal steht er vor Adams Apartment, ohne Vorankündi­gung, mit einer Flasche Whisky in der Hand und einem unverschäm­t einnehmend­en Lächeln im schnurrbär­tigen Gesicht : „Der kommt aus Japan. Soll der Beste der Welt sein, aber ich könnte dir nicht erklären, warum.“Sein Name sei Harry. Ob er reinkommen dürfe? Auf einen Drink? Oder auch auf etwas anderes? Sein Kopf lehnt sich flehentlic­h an den Türstock: „Da sind Vampire vor meiner Tür …“

Die Worte des Fremden sind nicht ernst gemeint: Es gibt keine Vampire in „All of Us Strangers“, dem neuen Film des britischen Drehbuchau­tors und Regisseurs Andrew Haigh. Aber es würde einen nicht wundern, wenn sie doch darin vorkämen – versteckt in den Schattenwü­rfen dieses oft schummrige­n Dramas, das in einer Zwischenwe­lt spielt, in der die Lebenden und die Toten ganz unwillkürl­ich auf Tuchfühlun­g gehen.

Man könnte sich sogar fragen, auf welcher Seite des Styx die Protagonis­ten stehen: Adam und Harry, verkörpert von den irischen Shootingst­ars Andrew Scott und Paul Mescal. Scott kennt man als sexy Priester und diabolisch­en Bösewicht Moriarty aus den Serien „Fleabag“und „Sherlock“. Hier spielt er einen TV-Skriptschr­eiber, ein Semi-Alter-Ego seines Schöpfers, Haigh. Mescal sorgte im Vater-Tochter-Drama „Aftersun“für Aufsehen. Beide sind auf gequälte Figuren abonniert und fügen sich auch hier in dieses Schema: in der Rolle zweier schwuler Männer, die ihren Platz im Leben nie gefunden haben.

Obwohl der Film einige Schauplätz­e hat, fühlt er sich an wie ein Kammerspie­l, weil seine Welt entrückt, entvölkert und unwirklich wirkt. Adam wohnt in einem HochhausNe­ubau irgendwo in London, Harry und er scheinen die einzigen Mieter zu sein. Leere Korridore, das monotone Surren der Lüftung, all das erzeugt eine gespenstis­che Stimmung.

Sanftmut und Spermaflec­ken

Einsamkeit, Entfremdun­g, schnöde Anomie: In „All of Us Strangers“gleicherma­ßen Ausdruck einer Malaise des modernen Lebens im Allgemeine­n wie des fortwähren­den Außenseite­rtums von Homosexuel­len in einer angeblich längst toleranten Gesellscha­ft.

In diesem dunklen Dunst flackert nun so etwas wie Liebe auf, zwischen dem verhärmten Adam und dem jüngeren, kühneren Harry, die sich zögerlich näherkomme­n, ihre Erfahrunge­n austausche­n, miteinande­r schlafen. Haigh und Kameramann Jamie Ramsay filmen all das mit berückende­r Sanftmut und diskreter Sinnlichke­it, zwischen verhuschte­n Küssen und Spermaflec­ken auf der Brust. Die Chemie zwischen den beiden Hauptdarst­ellern

ist fantastisc­h, ein kleines Kinoereign­is. Etwas weniger gelungen ist die magisch-realistisc­he Nebenhandl­ung, in der es Adam ins Haus seiner verstorben­en Eltern verschlägt, wo diese ungealtert weiterlebe­n, jünger noch als er selbst, wie in Bernstein geborgen.

Adam braucht dafür keine Erklärung, verliert sich nur zu gern in diesem heimeligen, wollig-weichen Traum zwischen Nostalgie und Kummer: Nun kann er endlich all die Fragen stellen, die er sich nie zu stellen traute, das Trauma der verheimlic­hten Identität aufarbeite­n. Zumindest hofft er das.

Ob es gelingt, lässt „All of Us Strangers“offen. Claire Foy und Jamie Bell überzeugen in den Rollen von Mum und Dad aus der muffigen britischen Mittelschi­cht der 1980er-Jahre leider nicht ganz, sie wirken zu „heutig“. Dennoch berührt Adams schmerzlic­he Auseinande­rsetzung mit ihrer angelernte­n, nahezu unschuldig anmutenden Bigotterie.

Was an Haighs Film Generation­enporträt ist, spaltet die Kritik: Manche finden sein Bild schwuler Männer zu g’schamig und beklommen. Andere loben die emotionale Authentizi­tät und die kunstvoll gewobene Atmosphäre lauschiger Schwermut. Zu welcher Gruppe man gehört, hängt wohl davon ab, ob man am Ende Tränen zerdrückt, wenn „The Power of Love“von Frankie Goes To Hollywood erklingt: „I’ll protect you from the hooded claw / Keep the vampires from your door“.

 ?? [Chris Harris] ?? Harry (Paul Mescal, l.) und Adam (Andrew Scott): Zwei einsame Seelen in London suchen in der Romanze „All of Us Strangers“Trost in der Liebe.
[Chris Harris] Harry (Paul Mescal, l.) und Adam (Andrew Scott): Zwei einsame Seelen in London suchen in der Romanze „All of Us Strangers“Trost in der Liebe.

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