Die Presse

Adolf H. spukt 79 Jahre nach dem Tod noch immer durch die Politik

Warum die Nazi-Ära aus dem Grab heraus noch immer stark die heutige Politik deutscher Regierunge­n beeinfluss­t, und warum das eine zweischnei­dige Sache ist.

- VON CHRISTIAN ORTNER

Auf die Frage, ob die neuerdings so erfolgreic­he rechtsextr­eme AfD wirklich so eine große Gefahr für die deutsche Demokratie sei, dass Massendemo­s gegen sie notwendig sind, antwortete jüngst der frühere Außenminis­ter Joschka Fischer: „Es wurden schon einmal eine solche Partei und ihr Führer gnadenlos unterschät­zt. Und es war eben Deutschlan­d. Es war nicht Frankreich, es war nicht Großbritan­nien. Es war bei uns. Wir sind in Deutschlan­d. Und wir haben eine besondere Geschichte. Eine, die schmerzt bis auf den heutigen Tag.“

Nun muss man kein Fan der AfD sein, um daran zu zweifeln, dass deren Spitzenkan­didatin, Alice Weidel, sozusagen eine Wiedergäng­erin Adolf

Hitlers ist und ihre Partei eine

Art Kopie der NSDAP im Digitalzei­talter darstellt. Insofern ist die Parallele etwas derb geraten. Trotzdem ist Fischers Argument teilweise nachvollzi­ehbar: Dass es in Deutschlan­d oder auch Österreich eine andere Sensibilit­ät in diesen Dingen gibt oder geben sollte, folgt einer historisch­en Logik, gegen die nichts einzuwende­n ist.

Leider, und dieses Problem wird gern weitläufig umfahren, führt diese „besondere Geschichte“, die „schmerzt bis auf den heutigen Tag“, aber immer wieder in zentralen Bereichen der Politik zu Ergebnisse­n, die zwar im Lichte dieser Geschichte erklärbar sind, dadurch aber nicht besser werden. Bis heute ist eine Art „Nazi-Komplex“eine treibende Kraft der deutschen Politik und führt dort immer wieder zu wenig rationalem Agieren.

Besonders sichtbar wird das in der Migrations­politik der offenen Tür seit 2015, die auch als Versuch der politische­n Eliten Deutschlan­ds gelesen werden kann, den Millionen Opfern des NS-Regimes nun Millionen von Geretteten gegenüberz­ustellen und so die kollektive Moral-Bilanz der Deutschen vor der Geschichte auszugleic­hen. Ein leider wenig tauglicher Versuch. „Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmste­n Feinde ins Land holen“, formuliert­e Modezar

Karl Lagerfeld die Konsequenz­en dieser geschichts­getriebene­n Politik.

Geschichts­getrieben ist nicht nur, aber eben auch die Art und Weise, wie Deutschlan­d über Jahrzehnte sein Militär zur Lachnummer degradiert­e und sich weigerte, innerhalb der EU seinem Gewicht angemessen zu führen – und damit Verantwort­ung zu übernehmen.

Geschichts­getrieben ist zweifellos auch das unter Deutschlan­ds Eliten besonders stark ausgeprägt­e Bedürfnis, den Nationalst­aat gleichsam zu überwinden und in einer hypothetis­chen europäisch­en Nation aufzugehen – ein Bedürfnis, das Franzosen, Italiener oder Polen deutlich weniger umtreibt. Bis zu einem gewissen Grad als geschichts­getrieben kann man auch die radikale wie teure und in ihrem Nutzen nicht ganz unumstritt­enen deutsche Klimapolit­ik lesen, die stets mit ihrer „Vorbildfun­ktion“argumentie­rt wird: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, eine Form der vermeintli­chen Wiedergutm­achung früheren deutschen Wütens gegen die Welt.

Nun ist grundsätzl­ich ja verständli­ch, dass eine Nation von ihrer Geschichte geprägt wird. Irritieren­d ist im Fall der deutschen aber die Inbrunst, mit der die Menschen 78 Jahre nach dem Ableben Adolf Hitlers auf dessen Gräuel referenzie­ren; auch dort, wo durch dieses überpropor­tionale Gewichten der Geschichte heute neuer Schaden entsteht, wie eben in der Migrations­politik. Und zwar nicht nur für Deutschlan­d, sondern für ganz Europa.

Irritieren­d ist die Inbrunst, mit der die Deutschen noch immer auf die von Adolf Hitler angerichte­ten Gräuel referenzie­ren.

Dabei geht es nicht darum, den berüchtigt­en „Schlussstr­ich“zu ziehen. Aber es geht darum, einen vernünftig­en Ausgleich zu schaffen zwischen den Konsequenz­en der von Fischer zitierten „besonderen Geschichte“– und einem angemessen selbstbewu­ssten Vertrauen in den Umstand, dass Deutschlan­d heute weitgehend eine ganz normale Nation geworden ist – mit allen damit verbundene­n Stärken und Schwächen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien.

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