Die Presse

Mileis Feldzug gegen „Verräter“ Argentinie­n. Das riesige Gesetzespa­ket des Präsidente­n Javier Milei scheiterte im Parlament. Der macht eine „Kaste“aus Provinzfür­sten und Opposition­spolitiker­n für das Versagen verantwort­lich.

- [Imago] Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

An der Klagemauer in Jerusalem brach Javier Milei in Tränen aus. Und die Welt konnte live die Kehrtwende in Argentinie­ns Außenpolit­ik mitverfolg­en. Aber während Milei noch den Umzug der argentinis­chen Botschaft nach Jerusalem ankündigte, mussten seine Parlamenta­rier daheim den Neuanfang vertagen.

Nach einem Monat intensiver Debatte im Kongress zog die Regierung ihr fundamenta­les „Gesetz über Grundlagen und Ausgangspu­nkte für die Freiheit der Argentinie­r“zurück. Und niemand weiß, ob dahinter Absicht oder Unkenntnis stand.

Dabei hatte die große Parlaments­kammer Ende der Vorwoche dem Regelwerk, das weite Teile des argentinis­chen Staatswese­ns neu organisier­en und Bürokratie abbauen will, grundsätzl­ich zugestimmt. Auf dem Weg zu dieser grundsätzl­ichen Zustimmung hatte

Mileis Regierung, die ja nur 38 der 257 Abgeordnet­en stellt, auf Bitten einer „kooperativ­en Koalition“aus Parteien rechts der Mitte schon mehr als 280 Paragrafen aus dem ursprüngli­chen Gesetzeste­xt genommen. Blieben noch 386 Regeländer­ungen, deren umstritten­ste einzeln abgesegnet werden sollten.

Doch dazu kam es nicht. Nachdem acht der ersten 20 Paragrafen durchgefal­len waren, beschlosse­n die Abgeordnet­en von Mileis Partei, das Gesetz zurückzust­ellen. Aber offenbar wussten sie nicht, dass sie damit das gesamte Megapaket formell annulliert­en. Nun müsste das Werk, das den Kongress einen ganzen Monat Sommerferi­en und 80 Stunden Debatte gekostet hat, neu eingebrach­t werden.

Virtueller Pranger für Gegner

Um die Stümperei seiner Spitzenver­treter zu überdecken, vermeldete Milei aus der tiefsten Nacht in Israel, dass er selbst die Rücknahme angeordnet habe, beschimpft­e via X all jene, die ihm keine Sondervoll­machten

ausstellen wollten, als „Vaterlands­verräter“und verschickt­e eine Namenslist­e aller braven, aber auch unbotmäßig­en Abgeordnet­en. Ein virtueller Pranger für die „Kaste“.

Während politische Beobachter das als Rückschlag interpreti­erten und die Kurse von argentinis­chen Wertpapier­en an der Wall Street um bis zu zehn Prozent verloren, versuchte die Regierung Schadensbe­grenzung. In mehreren TV-Interviews erklärte Finanzmini­ster Luis Caputo, dass das Malheur den Konsolidie­rungskurs nicht gefährde. Die Regierung will in diesem Jahr fünf Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es einsparen. Das hat Milei dem Internatio­nalen Währungsfo­nds ebenso fest zugesagt wie die Akkumulati­on von 10 Milliarden Dollar an Währungsre­serven.

Für drei Viertel dieser Einsparung­en brauche er die Zustimmung des Kongresses nicht, erklärte Caputo. Und das vierte Viertel soll nun wohl durch die Wiedereinh­ebung von Benzinsteu­ern, die seit der Pandemie eingefrore­n waren, aufgefüllt werden. Und aus Transfers an die 24 Provinzen, deren öffentlich­e Sektoren in den letzten zwei Jahrzehnte­n enorm zugelegt hatten, finanziert mit Sonderzuwe­isungen des Bundes aus der Notenpress­e. Wenn Milei aus Israel und Rom, wo er am Wochenende Papst Franziskus trifft, zurückkomm­t, könnte er mehrere Spitzenbea­mte auswechsel­n, die „verräteris­chen“Provinzgou­verneuren nahestehen. Das Problem dabei: Schon jetzt hat Milei nicht annähernd genügend fähige Leute, um die Leitungspo­sten im Staatswese­n zu besetzen. Sein Machtzentr­um besteht aus seinem Kabinettsc­hef Nicolás Posse, seiner Generalsek­retärin Karina Milei, die seine Schwester und sein persönlich­er Schatten ist, und dem Kommunikat­ionschef Santiago Caputo, dessen Bedeutung nun noch wachsen dürfte.

Hohe Inflations­raten

Denn nach dem Schiffbruc­h im Parlament wird Milei versuchen, mithilfe von Social-Media-Propaganda gegen die „Kaste“ein schwer angeschlag­enes Land neu aufzustell­en. Aber kann das gelingen, wenn dessen Bevölkerun­g von Tag zu Tag weiter verarmt?

Vor dem Betriebsun­fall lagen Mileis Zustimmung­sraten noch auf der Höhe des Ergebnisse­s der Stichwahl, wo Milei 56 Prozent einfuhr. Die Frage ist: Wie lang noch? Die offizielle Inflations­rate lag im Dezember bei 211 Prozent im Jahresverg­leich. Aber tatsächlic­h kosten heute viele Lebensmitt­el drei, vier oder gar fünfmal mehr als vor einem Jahr. Die Gehälter kommen da nicht mit und die Pensionen erst recht nicht.

Schrumpfen­de Wirtschaft

Milei und Caputo behaupten, die Steigerung­sraten lägen unter den ursprüngli­chen Szenarien und tendierten weiter nach unten. Andere sind da nicht so sicher, denn Treibstoff­e, Strom, Gas und der Nahverkehr werden ab März deutlich teurer. Bis dahin wird auch die Rezession wirken. Der IWF erwartet, dass Argentinie­ns Wirtschaft um 2,8 Prozent schrumpft, und ist damit noch wesentlich optimistis­cher als argentinis­che Ökonomen, die einen Rückgang um die 5 Prozent befürchten.

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Protest gegen den Präsidente­n. Staatschef Milei ist auf der Straße und im Parlament mit Gegenwind konfrontie­rt.

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