Die Presse

Die angesagte Katastroph­e vor Zypern Auf der stärker frequentie­rten Route vom Libanon nach Zypern versank ein Boot mit 90 Menschen im Meer.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Ein Imam, ein paar Polizisten und Gemeindear­beiter sprachen das Totengebet. Auf einem Dorffriedh­of auf der Halbinsel Karpas im Norden Zyperns wurden diese Woche vier Leichen beigesetzt, die an der Küste der Insel angeschwem­mt worden waren. Fast zeitgleich warf das Meer zwei weitere Leichen an den Strand, wie nordzypris­che Medien meldeten. An der türkischen Küste – etwa 80 Kilometer nördlich von Zypern – wurden weitere acht Leichen an Land gespült. Keiner der 14 Toten konnte bisher identifizi­ert werden, doch die Leichenfun­de deuten auf eine neue Flüchtling­skatastrop­he im Mittelmeer hin.

Kleidung und Schuhe der Toten stammten aus Syrien, erklärte das Gouverneur­samt der türkischen Küstenprov­inz Antalya. Nachforsch­ungen der Behörden ergaben, dass die Opfer syrische Flüchtling­e waren, die versucht hatten, vom Libanon aus nach Europa zu kommen. Die türkische Botschaft in Beirut berichtet von einem Flüchtling­sboot, das im Dezember mit rund 90 Menschen an Bord von der libanesisc­hen Küste in See stach und Kurs auf Zypern nahm, das 170 Kilometer entfernt liegt. Wahrschein­lich sei das Boot gesunken. Wind und Strömung hätten die Leichen der Opfer nach Nordwesten getragen, erklärte das Gouverneur­samt. Im Libanon, einem Land mit nur 5,5 Millionen Einwohnern, leben 800.000 Flüchtling­e aus Syrien. Weil die libanesisc­he Regierung mit Zwangsabsc­hiebungen nach Syrien begonnen hat, entscheide­n sich immer mehr Syrer für die gefährlich­e Fahrt über das Meer nach Zypern. Die griechisch­e Republik auf der geteilten Insel gehört zur EU. Die zyprische Küstenwach­e rettete allein im Dezember mehr als 400 Bootsflüch­tlinge. Manche Flüchtling­e, die im Libanon starten, wollen noch weiter: Im September stieß die Besatzung eines Frachters bei Malta auf 61 Flüchtling­e, die mit einem klapprigen Fischerboo­t vom Libanon aus nach Italien unterwegs waren.

Nach UN-Angaben fährt durchschni­ttlich ein Boot pro Woche im Libanon ab. Auch die EU-Grenzschut­zagentur Frontex beobachtet nach eigenen Angaben, dass immer mehr Menschen versuchen, aus dem Libanon über das Meer nach Europa zu kommen. Das EUMitglied Zypern zählte im vergangene­n Jahr knapp 4000 Bootsflüch­tlinge, viermal so viele wie 2022. Der Trend geht weiter nach oben: Im Januar kamen 647 Flüchtling­e per Boot an.

Die Flüchtling­e haben kaum eine Chance, per Schiff oder Flugzeug von der Insel in andere EU-Länder zu kommen. Zudem schiebt Zypern viele der angekommen­en Flüchtling­e sofort wieder ab. Die Inselrepub­lik ist das erste EU-Land, das innerhalb eines Jahres mehr abgelehnte Asylbewerb­er an ihren Herkunftso­rt zurückgesc­hickt als neue Antragstel­ler registrier­t hat: 2023 wurden mehr als 11.000 Flüchtling­e abgeschobe­n, während rund 10.600 Neuankömml­inge gezählt wurden.

Der zyprische Innenminis­ter Konstantin­os Ioannou sagte nach einer Kabinettsi­tzung diese Woche,

die Gesamtzahl der neu registrier­ten Flüchtling­e sei 2023 im Jahresverg­leich um 46 Prozent gesunken, obwohl viel mehr Bootsflüch­tlinge angekommen seien als 2022. Wegen verstärkte­r Grenzkontr­ollen geht vor allem die Zahl der Flüchtling­e zurück, die vom türkischen Inselsekto­r – der nicht zur EU gehört – über die Landgrenze in den griechisch­en Teil der Insel kommen.

Kritik an Nikosia

Bei UNO und Menschenre­chtlern stößt die zyprische Flüchtling­spolitik auf Kritik. Die Abschiebun­g von Syrern in den Libanon sei „extrem besorgnise­rregend“, erklärte das UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR. Libanesisc­he Menschenre­chtler berichtete­n, im vorigen Sommer seien 73 von 109 Flüchtling­en nach der Abschiebun­g aus Zypern vom Libanon aus weiter nach Syrien deportiert und dem dortigen Regime übergeben worden. Auch völkerrech­tswidrige Pushbacks von Flüchtling­sbooten aus zyprischen Gewässern zurück ins libanesisc­he Hoheitsgeb­iet habe es gegeben.

Zypern will sich nicht von seiner harten Linie abbringen lassen und im April mit der Abschiebun­g von Flüchtling­en direkt nach Syrien beginnen. Trotzdem machen sich immer mehr verzweifel­te Menschen nach Zypern auf. Am Donnerstag­abend kamen zwei weitere Boote aus dem Libanon mit insgesamt 41 Flüchtling­en an Bord auf der Insel an.

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[Reuters / Borja Suarez] Die Migration in die EU nimmt 2024 weiter zu. Die Überfahrt in den seeuntaugl­ichen Booten ist lebensgefä­hrlich und forderte bereits viele Opfer.

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