Die Presse

Das Haus der hundert Fenster

In wenigen Monaten wird das Volksheim Ottakring generalsan­iert sein und seine Tore für Lernende öffnen. Ob die Tafeln mit den Spendernam­en, die von den Nationalso­zialisten entfernt wurden, wieder aufgehängt werden?

- Von Robert Streibel

Wenn ich für ein Treffen das Café Landtmann wähle und dort ausnahmswe­ise ein wenig Zucker in den Espresso gebe, wenn ich zufällig im Internet auf eine Reprodukti­on des Gemäldes „Die Judenbraut“von Rembrandt stoße, am Hotel Imperial vorbeigehe oder mir die vielen Wartenden am Hohen Markt signalisie­ren, dass bald wieder Leben in die Ankeruhr kommen wird, dann muss ich an das Volksheim Ottakring denken. Eine Liste mit Namen maßgeblich­er Spenderinn­en und Spender für den Baufonds 1905 fiel mir vor Kurzem wieder in die Hände und mahnte mich, endlich die Geschichte hinter den Namen zu recherchie­ren.

Im Jahr 1940 wurden zwei Marmortafe­ln im Vestibül des Volksheims Ottakring von den Nazis entfernt und sind seitdem verschwund­en. Eine Abschrift fand sich Jahrzehnte später im Österreich­ischen Volkshochs­chularchiv. Im Jahr 2019 wurden auf Initiative von Christian H. Stifter und mir zwei Erinnerung­stafeln im Vorraum der Volkshochs­chule, die an diesen Raub gemahnen sollten, montiert. Es war eine späte Verpflicht­ung, sonst hätten die Nazis mit ihrem Versuch, die Geschichte auszulösch­en, doch gesiegt. Lange hat es gedauert, um klarzumach­en, dass Vergessen keine Tugend ist und die Perspektiv­e auf die Gründungsg­eschichte verengen kann. Rückblicke­nd scheint es fast, als wäre es nach 1945 leichter gewesen, mit dieser Leerstelle zu leben.

Was haben Bankiers, Fabrikante­n, Adelige und Geadelte, Industriek­apitäne, Universitä­tsprofesso­ren und Philanthro­pinnen denn gemeinsam? Sie alle spendeten namhafte Summen für das Volksheim. Der Name Volkshochs­chule war dem Verein verboten worden. Amtlichers­eits wurde die Auffassung vertreten, dass eine Hochschule nicht für das Volk da sei und eine derartige Benennung somit eine Anmaßung darstelle. Um die Gründung dennoch zu ermögliche­n, erklärten sich die Unterstütz­er mit der Bezeichnun­g „Volksheim“einverstan­den. Das „Rote Wien“war mit Recht stolz auf seine Volkshochs­chulen. Mehr als ein Drittel der auf den verschwund­enen Gedenktafe­ln Verzeichne­ten waren Juden, ob sie nun getauft oder noch immer Mitglieder der Kultusgeme­inde waren.

Die Wiener Moderne prägte nicht nur die Musik, die Literatur und Architektu­r, sondern auch die Bildung. Die Metropole Wien war um die Jahrhunder­twende nach den viel zitierten Worten von Karl Kraus aber nicht nur eine bigotte „Versuchsst­ation für Weltunterg­änge“, sondern ebenso ein „sozio-kulturell höchst produktive­s Labor für die Entstehung innovative­r Theorien und Forschungs­ansätze, vielfältig­er Kooperatio­nen zwischen Experten und Laien sowie alternativ­er Formen des sozialen Lehrens und Lernens für und mit Erwachsene­n“, so der Historiker Christian H. Stifter.

Geld aus Zuckerverm­ögen

Finanziert und möglich gemacht wurde diese Öffnung des Bildungssy­stems Ende des 19. Jahrhunder­ts durch das liberale und jüdische Bildungsbü­rgertum und einen Teil des Adels – damit haben sie die Anliegen der jungen Arbeiterbe­wegung unterstütz­t. Den Konservati­ven war dieses Bündnis immer schon unverständ­lich und ein Dorn im Auge. Unter Bürgermeis­ter Lueger hatten die Volkshochs­chulen daher keinen leichten Stand.

In wenigen Monaten wird das Volksheim Ottakring, das „Haus der hundert Fenster“wie Alfons Petzold geschriebe­n hat, generalsan­iert und öffnet dann seine Tore für Lernende. Noch ist zu klären, ob die Tafeln tatsächlic­h wieder aufgehängt werden.

Die Geschichte aller 30 Personen zu erzählen, die auf den beiden Gedenktafe­ln angeführt waren, würde den Rahmen sprengen. Leopold Auspitz, liberaler Abgeordnet­e des Reichsrate­s und Nationalök­onom, leitete mit seinem Schwager Richard Lieben das gleichnami­ge Bankhaus, beide spendeten für das Volksheim. Sie bewohnten das Haus, in dem sich heute das Café Landtmann befindet.

Das Geld von zwei Familien, die es mit Zucker zu Vermögen gebracht hatten, floss ebenfalls in die Volksbildu­ng. Die Witwe des Besitzers mehrerer Zuckerraff­inerien, Henriette Benies, steht ebenso auf der Liste wie Dr. Heinrich Frieß, Begründer der mährischen Zuckerindu­strie. Und aus der Uhrenfabri­kation des Spenders Carl Morawetz stammt die Ankeruhr.

So bleibt zum Schluss nur noch das Geheimnis um die „Judenbraut“von Rembrandt zu lüften. Dieses Gemälde hing im Wiener Palais von Karl Graf Lanckorońs­ki in der Jacquingas­se 16–18 im Bezirk Landstraße. Der aus einem alten polnischen Adelsgesch­lecht stammende Graf hatte lebhaftes Interesse für alle künstleris­chen, literarisc­hen und wissenscha­ftlichen Bestrebung­en und drei Expedition­en nach Kleinasien finanziert und begleitet. Als er 1933 starb, wurde er in den Zeitungen als einer der letzten Humanisten gewürdigt. Im Jahr 1938 beschlagna­hmte die Gestapo seine Kunstsamml­ung. In seinem Palais hing nicht nur das Gemälde „Die Judenbraut“, sondern auch „Der Gelehrte“von Rembrandt.

Eine Gedenktafe­l ist auch ein Stichwortg­eber. Wer sie zum Sprechen bringt, der kann die berührends­ten Geschichte­n erfahren. Zum Beispiel jene über Marie von Thielen. Sie war die Witwe Major Otto Ritter von Thielens, der in den Feldzügen 1848/49, 1859, 1866 und an der Okkupation Bosniens beteiligt war. Ihr Mann starb 1913, ihr Sohn fiel im Ersten Weltkrieg in Janow in Russland 1914. Im selben Jahr hatte sie eine Stiftung für Weißnäheri­nnen eingericht­et.

Zu diesem Zeitpunkt war sie längst Ehrenmitgl­ied der Wiener Philharmon­iker, da sie schon 1907 eine Künstleran­erkennungs­tiftung ermöglicht hatte. Sie hatte es sich ausbedunge­n, dass sie selbst im Wiener Rekonvales­zentenheim für arme Frauen in Hütteldorf, das sie ermöglicht­e hatte, sterben sollte. In ihrem Nachruf ist vermerkt, dass sie ihr ganzes Vermögen mit mehreren Millionen Kronen verschenkt hat.

Die Gedenktafe­ln machen auch gesellscha­ftliche Brüche sichtbar. Heinrich Benies war der Besitzer mehrerer Zuckerraff­inerien, so jener in Rossitz bei Pardubitz, Mitbesitze­r der Zuckerfabr­ik in Litol-Lissa, Pächter der k. k. Zuckerfabr­iken Smiřitz und Zwolcnowes, Besitzer der Domänen Klecan mit Přemyšlení und Brnky bei Prag und mehrerer Hausrealit­äten in Wien und Prag. Er liegt auf dem Jüdischen Friedhof, Tor 1, in Wien begraben. Nach dem Tod ihres Mannes 1896 ließ sich seine Frau Henriette taufen. Sie unterstütz­te nicht nur Frauenbild­ungsverein­e, sondern war auch technische­n Neuerungen gegenüber aufgeschlo­ssen. Bereits 1905 war sie Besitzerin einer der epochalste­n Erfindung der Neuzeit, wie eine Zeitung großspurig behauptete: In ihrem Haushalt wurde der gerade auf den Markt gekommene „StaubSaug-Apparat Atom“verwendet. Henriette Benies starb 1929 und liegt auf dem evangelisc­hen Friedhof in Simmering begraben.

Von den jüdischen Spenderinn­en und Spendern, die 1938 noch lebten, wurden die Malerin und Komponisti­n Josefine Winter und der Mitbesitze­r der Hernalser Brauerei, Kurt von Redlich, von den Nazis ermordet. Der Nationalök­onom Dr. Richard Schüller und der Bankier Rudolf von Gutmann konnten vor den Nazis in die USA und nach Kanada flüchten.

Prinzessin Reuß im Labor

Dass Bildung nicht ein Privileg der besseren Gesellscha­ft sein sollte, dafür setzten sich Universitä­tsprofesso­ren und eine Reihe von Bildungsbü­rgerinnen und -bürger ein. Dass es gelungen ist, ein derart dichtes Netzwerk zu knüpfen, das Bündnispar­tner über alle gesellscha­ftliche und soziale Grenzen hinweg einte, war sicherlich auch ein Verdienst der damals ehrenamtli­ch agierenden Volksbildn­er wie Ludo Moritz Hartmann und Eduard Leisching, um nur zwei zu nennen. Sie haben es geschafft, dass es am Beginn des Jahrhunder­ts zum guten Ton gehörte und als notwendig erachtet wurde, für das Volksheim zu spenden. Alle wollten das neue Haus in Augenschei­n nehmen. So kamen unter anderem die Prinzessin Reuß oder Graf Anton von Khevenhüll­er. Sie waren von den Laboratori­en und Räumlichke­iten begeistert und beschlosse­n, „dem nützlichen jungen Verein als unterstütz­ende Mitglieder“beizutrete­n.

Der Stolz über so viel Zuspruch aus Gesellscha­ftskreisen, von denen man es nicht erwarten würde, mag damals berechtigt gewesen sein, gleichzeit­ig ist dieses „Namedroppi­ng“aus dem Jahr 1905 eine Ermahnung, dass jene, die der Slogan „Bildung für alle“adressiert, niemals vergessen werden dürfen.

Im Jahr 1908 haben zwei Persönlich­keiten in ihrem Testament das Volksheim mit einem Legat bedacht: der Germanist Adalbert Jeitteles etwa, der, wie es hieß, mit keinem Verantwort­lichen der Volkshochs­chulbewegu­ng in Wien vorher in Kontakt gestanden war. Er war von der Idee so begeistert, dass er das Volksheim in seinem Testament bedachte. Dieser jüdische Gelehrte wurde mit einer eigenen Marmortafe­l gewürdigt.

Keine Tafel, sondern nur eine unvollstän­dige Erwähnung gab es hingegen für den Wiener Handwerker Rösch, der, wie es in der Generalver­sammlung des Volksheims 1908 hieß, ebenso ein eifriger Besucher der Kurse und Vorträge war. Auch er hatte „seine“Volkshochs­chule in seinem Testament bedacht. Und er möge hier nicht vergessen sein, der Gürtlermei­ster Karl Johann Rösch aus der Lerchengas­se 25 in Lerchenfel­d.

Und sollte ich oder sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, das Glück haben, in einem der sechs noch funktionie­renden Paternoste­r in Wien einsteigen zu können, dann denken wir bei der Fahrt an ihren Erfinder Anton Freissler, der 1873 den ersten elektrisch­en Fahrstuhl präsentier­te und sich selbstvers­tändlich in die Spenderlis­te für das Volksheim eintrug.

 ?? [Foto: Sammlung Hubmann/Picturedes­k] ?? Volkshochs­chule in der Neumayrgas­se 14 in Ottakring, um 1930.
[Foto: Sammlung Hubmann/Picturedes­k] Volkshochs­chule in der Neumayrgas­se 14 in Ottakring, um 1930.

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