Das Haus der hundert Fenster
In wenigen Monaten wird das Volksheim Ottakring generalsaniert sein und seine Tore für Lernende öffnen. Ob die Tafeln mit den Spendernamen, die von den Nationalsozialisten entfernt wurden, wieder aufgehängt werden?
Wenn ich für ein Treffen das Café Landtmann wähle und dort ausnahmsweise ein wenig Zucker in den Espresso gebe, wenn ich zufällig im Internet auf eine Reproduktion des Gemäldes „Die Judenbraut“von Rembrandt stoße, am Hotel Imperial vorbeigehe oder mir die vielen Wartenden am Hohen Markt signalisieren, dass bald wieder Leben in die Ankeruhr kommen wird, dann muss ich an das Volksheim Ottakring denken. Eine Liste mit Namen maßgeblicher Spenderinnen und Spender für den Baufonds 1905 fiel mir vor Kurzem wieder in die Hände und mahnte mich, endlich die Geschichte hinter den Namen zu recherchieren.
Im Jahr 1940 wurden zwei Marmortafeln im Vestibül des Volksheims Ottakring von den Nazis entfernt und sind seitdem verschwunden. Eine Abschrift fand sich Jahrzehnte später im Österreichischen Volkshochschularchiv. Im Jahr 2019 wurden auf Initiative von Christian H. Stifter und mir zwei Erinnerungstafeln im Vorraum der Volkshochschule, die an diesen Raub gemahnen sollten, montiert. Es war eine späte Verpflichtung, sonst hätten die Nazis mit ihrem Versuch, die Geschichte auszulöschen, doch gesiegt. Lange hat es gedauert, um klarzumachen, dass Vergessen keine Tugend ist und die Perspektive auf die Gründungsgeschichte verengen kann. Rückblickend scheint es fast, als wäre es nach 1945 leichter gewesen, mit dieser Leerstelle zu leben.
Was haben Bankiers, Fabrikanten, Adelige und Geadelte, Industriekapitäne, Universitätsprofessoren und Philanthropinnen denn gemeinsam? Sie alle spendeten namhafte Summen für das Volksheim. Der Name Volkshochschule war dem Verein verboten worden. Amtlicherseits wurde die Auffassung vertreten, dass eine Hochschule nicht für das Volk da sei und eine derartige Benennung somit eine Anmaßung darstelle. Um die Gründung dennoch zu ermöglichen, erklärten sich die Unterstützer mit der Bezeichnung „Volksheim“einverstanden. Das „Rote Wien“war mit Recht stolz auf seine Volkshochschulen. Mehr als ein Drittel der auf den verschwundenen Gedenktafeln Verzeichneten waren Juden, ob sie nun getauft oder noch immer Mitglieder der Kultusgemeinde waren.
Die Wiener Moderne prägte nicht nur die Musik, die Literatur und Architektur, sondern auch die Bildung. Die Metropole Wien war um die Jahrhundertwende nach den viel zitierten Worten von Karl Kraus aber nicht nur eine bigotte „Versuchsstation für Weltuntergänge“, sondern ebenso ein „sozio-kulturell höchst produktives Labor für die Entstehung innovativer Theorien und Forschungsansätze, vielfältiger Kooperationen zwischen Experten und Laien sowie alternativer Formen des sozialen Lehrens und Lernens für und mit Erwachsenen“, so der Historiker Christian H. Stifter.
Geld aus Zuckervermögen
Finanziert und möglich gemacht wurde diese Öffnung des Bildungssystems Ende des 19. Jahrhunderts durch das liberale und jüdische Bildungsbürgertum und einen Teil des Adels – damit haben sie die Anliegen der jungen Arbeiterbewegung unterstützt. Den Konservativen war dieses Bündnis immer schon unverständlich und ein Dorn im Auge. Unter Bürgermeister Lueger hatten die Volkshochschulen daher keinen leichten Stand.
In wenigen Monaten wird das Volksheim Ottakring, das „Haus der hundert Fenster“wie Alfons Petzold geschrieben hat, generalsaniert und öffnet dann seine Tore für Lernende. Noch ist zu klären, ob die Tafeln tatsächlich wieder aufgehängt werden.
Die Geschichte aller 30 Personen zu erzählen, die auf den beiden Gedenktafeln angeführt waren, würde den Rahmen sprengen. Leopold Auspitz, liberaler Abgeordnete des Reichsrates und Nationalökonom, leitete mit seinem Schwager Richard Lieben das gleichnamige Bankhaus, beide spendeten für das Volksheim. Sie bewohnten das Haus, in dem sich heute das Café Landtmann befindet.
Das Geld von zwei Familien, die es mit Zucker zu Vermögen gebracht hatten, floss ebenfalls in die Volksbildung. Die Witwe des Besitzers mehrerer Zuckerraffinerien, Henriette Benies, steht ebenso auf der Liste wie Dr. Heinrich Frieß, Begründer der mährischen Zuckerindustrie. Und aus der Uhrenfabrikation des Spenders Carl Morawetz stammt die Ankeruhr.
So bleibt zum Schluss nur noch das Geheimnis um die „Judenbraut“von Rembrandt zu lüften. Dieses Gemälde hing im Wiener Palais von Karl Graf Lanckoroński in der Jacquingasse 16–18 im Bezirk Landstraße. Der aus einem alten polnischen Adelsgeschlecht stammende Graf hatte lebhaftes Interesse für alle künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Bestrebungen und drei Expeditionen nach Kleinasien finanziert und begleitet. Als er 1933 starb, wurde er in den Zeitungen als einer der letzten Humanisten gewürdigt. Im Jahr 1938 beschlagnahmte die Gestapo seine Kunstsammlung. In seinem Palais hing nicht nur das Gemälde „Die Judenbraut“, sondern auch „Der Gelehrte“von Rembrandt.
Eine Gedenktafel ist auch ein Stichwortgeber. Wer sie zum Sprechen bringt, der kann die berührendsten Geschichten erfahren. Zum Beispiel jene über Marie von Thielen. Sie war die Witwe Major Otto Ritter von Thielens, der in den Feldzügen 1848/49, 1859, 1866 und an der Okkupation Bosniens beteiligt war. Ihr Mann starb 1913, ihr Sohn fiel im Ersten Weltkrieg in Janow in Russland 1914. Im selben Jahr hatte sie eine Stiftung für Weißnäherinnen eingerichtet.
Zu diesem Zeitpunkt war sie längst Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker, da sie schon 1907 eine Künstleranerkennungstiftung ermöglicht hatte. Sie hatte es sich ausbedungen, dass sie selbst im Wiener Rekonvaleszentenheim für arme Frauen in Hütteldorf, das sie ermöglichte hatte, sterben sollte. In ihrem Nachruf ist vermerkt, dass sie ihr ganzes Vermögen mit mehreren Millionen Kronen verschenkt hat.
Die Gedenktafeln machen auch gesellschaftliche Brüche sichtbar. Heinrich Benies war der Besitzer mehrerer Zuckerraffinerien, so jener in Rossitz bei Pardubitz, Mitbesitzer der Zuckerfabrik in Litol-Lissa, Pächter der k. k. Zuckerfabriken Smiřitz und Zwolcnowes, Besitzer der Domänen Klecan mit Přemyšlení und Brnky bei Prag und mehrerer Hausrealitäten in Wien und Prag. Er liegt auf dem Jüdischen Friedhof, Tor 1, in Wien begraben. Nach dem Tod ihres Mannes 1896 ließ sich seine Frau Henriette taufen. Sie unterstützte nicht nur Frauenbildungsvereine, sondern war auch technischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. Bereits 1905 war sie Besitzerin einer der epochalsten Erfindung der Neuzeit, wie eine Zeitung großspurig behauptete: In ihrem Haushalt wurde der gerade auf den Markt gekommene „StaubSaug-Apparat Atom“verwendet. Henriette Benies starb 1929 und liegt auf dem evangelischen Friedhof in Simmering begraben.
Von den jüdischen Spenderinnen und Spendern, die 1938 noch lebten, wurden die Malerin und Komponistin Josefine Winter und der Mitbesitzer der Hernalser Brauerei, Kurt von Redlich, von den Nazis ermordet. Der Nationalökonom Dr. Richard Schüller und der Bankier Rudolf von Gutmann konnten vor den Nazis in die USA und nach Kanada flüchten.
Prinzessin Reuß im Labor
Dass Bildung nicht ein Privileg der besseren Gesellschaft sein sollte, dafür setzten sich Universitätsprofessoren und eine Reihe von Bildungsbürgerinnen und -bürger ein. Dass es gelungen ist, ein derart dichtes Netzwerk zu knüpfen, das Bündnispartner über alle gesellschaftliche und soziale Grenzen hinweg einte, war sicherlich auch ein Verdienst der damals ehrenamtlich agierenden Volksbildner wie Ludo Moritz Hartmann und Eduard Leisching, um nur zwei zu nennen. Sie haben es geschafft, dass es am Beginn des Jahrhunderts zum guten Ton gehörte und als notwendig erachtet wurde, für das Volksheim zu spenden. Alle wollten das neue Haus in Augenschein nehmen. So kamen unter anderem die Prinzessin Reuß oder Graf Anton von Khevenhüller. Sie waren von den Laboratorien und Räumlichkeiten begeistert und beschlossen, „dem nützlichen jungen Verein als unterstützende Mitglieder“beizutreten.
Der Stolz über so viel Zuspruch aus Gesellschaftskreisen, von denen man es nicht erwarten würde, mag damals berechtigt gewesen sein, gleichzeitig ist dieses „Namedropping“aus dem Jahr 1905 eine Ermahnung, dass jene, die der Slogan „Bildung für alle“adressiert, niemals vergessen werden dürfen.
Im Jahr 1908 haben zwei Persönlichkeiten in ihrem Testament das Volksheim mit einem Legat bedacht: der Germanist Adalbert Jeitteles etwa, der, wie es hieß, mit keinem Verantwortlichen der Volkshochschulbewegung in Wien vorher in Kontakt gestanden war. Er war von der Idee so begeistert, dass er das Volksheim in seinem Testament bedachte. Dieser jüdische Gelehrte wurde mit einer eigenen Marmortafel gewürdigt.
Keine Tafel, sondern nur eine unvollständige Erwähnung gab es hingegen für den Wiener Handwerker Rösch, der, wie es in der Generalversammlung des Volksheims 1908 hieß, ebenso ein eifriger Besucher der Kurse und Vorträge war. Auch er hatte „seine“Volkshochschule in seinem Testament bedacht. Und er möge hier nicht vergessen sein, der Gürtlermeister Karl Johann Rösch aus der Lerchengasse 25 in Lerchenfeld.
Und sollte ich oder sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, das Glück haben, in einem der sechs noch funktionierenden Paternoster in Wien einsteigen zu können, dann denken wir bei der Fahrt an ihren Erfinder Anton Freissler, der 1873 den ersten elektrischen Fahrstuhl präsentierte und sich selbstverständlich in die Spenderliste für das Volksheim eintrug.