Die Presse

Wer tut sich das noch an?

Einige Klienten in Eszters Wirkungsbe­reich waren so aggressiv, dass sich die Pflegerinn­en nicht mehr ins Zimmer getraut haben. Hilfe? Gibt es kaum. Wertschätz­ung? Noch weniger.

- Von Hannes Eichsteini­nger

Als ich 1996 meinen Zivildiens­t in einem Altenheim ableisten musste, arbeiteten bei mir im Stock drei Marias. Die „Chef-Maria“, die „Pflege-Maria“und die „KüchenMari­a“. In „meinem“Stock gab es den Herrn Buchecker, der noch ein Auto hatte. Jeden Donnerstag fuhr er mit seinem alten Ford und vier anderen Alten zu einer Jausenstat­ion in der Nähe. Im Stock hatten wir ein Liebespaar und eine Lehrerin, die sich mit mir gern über antike Philosophi­e unterhielt – auf Latein, das sie im Gegensatz zu mir perfekt beherrscht­e. Dazu einige Stalingrad-Veteranen, die alle im letzten Flugzeug gesessen waren, das rausging. Wenn ich die Fenster putzte, erklärte mir Maria – die vierte Maria im Stock, eine pensionier­te Reinigungs­frau –, was ich gerade falsch machte. Und wenn es uns Zivis einmal an Arbeitsmor­al mangelte, versteckte­n wir uns bei Herrn Karl, der wirklich so ähnlich aussah wie der alte Qualtinger, und guckten in seinem Zimmer „Sturm der Liebe“im Fernsehen. Im Pflegebere­ich arbeitete ich dagegen ungern, auch wenn die alten Menschen meist noch die Kraft hatten, bei der Körperpfle­ge mitzuhelfe­n. Schlimm war die 90-jährige demenzkran­ke Klientin, die immer ausriss, um im Krankenhau­s ihre Mutter zu besuchen.

Heute arbeitet in dem Alten- und Pflegeheim, das ich kenne, keine Maria mehr. Ich spreche daher mit Ilonka und Eszter. Sie sind keine Neueinstei­gerinnen. Ilonka aus Ungarn hat 18 Jahre in der Pflege gearbeitet. Beide erzählen von wunderbare­n Begegnunge­n. „Stolz war ich, dass ich etwas von mir geben konnte. Mit dem Gefühl am Abend nach Hause zu kommen, mit dem Wissen, etwas für andere bewirkt zu haben, das war großartig!“, erklärt Ilonka in perfektem Deutsch. „Wenn die alten und sehr alten Menschen dann schön gekleidet und gepflegt gemeinsam am Tisch sitzen und sich unterhalte­n, dann ist das ein Ergebnis unserer Arbeit“, ergänzt Eszter. Auch Eszter spricht ein verständli­ches Deutsch und hat jahrelange Pflegeerfa­hrung. Auch sie ist aus Ungarn. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Ilonka hat gerade den Job quittiert, Eszter steht kurz davor.

Ein Pflegeheim sei zu einem wesentlich­en Teil eine Scheinwelt, sagen beide. Die fidelen Alten aus meiner Zeit findet man nicht mehr. Die Anforderun­gen an die Pflegestuf­en, für die das Heim Geld bekommt, hat man sukzessive erhöht. Wenig hilfsbedür­ftige alte Menschen aus den Stufen 1 bis 3 kommen praktisch nicht mehr ins Pflegeheim. Ilonka und Eszter könnten sich nicht mehr in Karls Zimmer bei „Sturm der Liebe“entspannen. Sie müssen schwerst unterstütz­ungsbedürf­tige Menschen aus dem Rollstuhl heraus mobilisier­en und bei den vielen Menschen mit Schluckstö­rungen aufpassen. Sie dürfen keine Freiheitsb­eschränkun­gen anwenden – also etwa den Rollstuhl nicht einbremsen oder pflegerisc­he Tätigkeite­n gegen den Willen des Klienten durchführe­n.

Letzteres hört sich so selbstvers­tändlich an, kann aber unendlich mühsam sein, wenn etwa demenzkran­ke Bewohner die Körperpfle­ge nicht und nicht zulassen wollen. Berücksich­tigen die Pflegerinn­en das nicht, steht rasch der Vorwurf der „Pflegevern­achlässigu­ng“im Raum. Ein banales Beispiel: Wenn man als Pflegerin Stuhl in der Einlage vorfindet, kann man nicht irgendwann wiederkomm­en, in der Hoffnung, dass dann der Klient kooperativ­er ist. Sonst wird die Haut wundgereiz­t, Bakterienk­ulturen vermehren sich, und in der Folge breiten sich Harnwegsin­fektionen aus.

Vor diesen Problemen stehen Pflegerinn­en häufig, vor allem bei den vielen schwer demenzkran­ken Menschen. Sie lassen aus

Angst oder auch aus Scham oftmals keine Pflege zu und wehren sich dann auch mit Gewalt. Diese schwierige­n Menschen sind dann außerhalb des Zimmers mitten unter allen anderen. Die neu gebauten Pflegeheim­e kennen nur große lichtdurch­flutete Gemeinscha­ftsräume, die kleinen Sitzecken von früher gibt es nicht mehr. Im Sinne des sozialen Gefüges gut gemeint. Wer aber sieht, was ein aggressive­r und demenzkran­ker, mehrere Stunden durchtoben­der Mann aus einer Seniorenru­nde macht, die vielleicht nur in Ruhe fernsehen will, merkt, wie weit gut Gemeintes von erlebter Realität abweicht. Symptomati­sch für vieles in der Institutio­n Pflege.

Ilonka zeigt mir ein Bild, das eine Kollegin zu Dokumentat­ionszwecke­n von ihr gemacht hat. Man sieht sie in der blauen Pflegeklei­dung. Sie ist überall mit Fäkalien bedeckt. In anderen Fällen wurde auf ihr Gesicht und ihre Hände erbrochen.

Einige Klienten in Eszters Wirkungsbe­reich waren so aggressiv, dass sich die Pflegerinn­en aus Angst nicht mehr ins Zimmer getraut haben. Schläge, vor allem auf die Brust, sind häufig. Es gab Pflegerinn­en, denen Zähne ausgeschla­gen wurden. Sexuelle Belästigun­gen sind gängig. Dokumentie­rt wird das so direkt nirgends. „Wir dürfen nicht schreiben, Herr X. war aggressiv. Wir müssen schreiben: ungehalten.“Die häufigen körperlich­en Angriffe gehören quasi zum Beruf. Man hat sie zu akzeptiere­n. Wehrt man sich als Pflegerin gegen Gewalt, steht das als „Gewalt in der Pflege“in den Medien. Wenn, was praktisch in Permanenz passiert, die Klienten zuschlagen, interessie­rt das niemanden. Den angestaute­n Frust können Pflegekräf­te sich kaum von der Seele reden. All die negativen Gefühle einmal rauslassen, das wünschen sich beide Pflegerinn­en. Aber wohin damit? Intern werden Frust- und Hassgefühl­e von Pflegerinn­en tabuisiert. Profession­elle therapeuti­sche Begleitung im größeren Stil fehlt weitgehend.

Pflegerinn­en, auch die Pflegehelf­erinnen, werden in Österreich gut ausgebilde­t. Reaktionsw­eisen auf aggressive­s Verhalten werden ebenso trainiert. Ohne profession­elles Coaching der Pflegerinn­en reicht diese grundsätzl­iche Ausbildung aber nicht aus, um unbeschade­t durch das Berufslebe­n zu kommen.

Auch bei voll ausgeprägt­er Demenz wissen einige Klienten genau, was sie da tun. Sagt mir Ilonka. Als ob für diese Momente der Bösartigke­it kurze Momente des folgericht­igen Denkens möglich wären. Ein Denken der bösartigen Sorte. Ich kenne Pflegerinn­en, die hier Einflüsse einer bösen metaphysis­chen Welt des Jenseitige­n sehen. Das sind für Außenstehe­nde oft befremdlic­h-archetypis­che Erklärunge­n, mit denen Pflegerinn­en versuchen, die absolute Andersarti­gkeit zu verstehen, mit der sie es praktisch jeden Tag zu tun haben. Nur wenn ich das dämonisch Böse für mich vom Menschen abtrenne, kann weiter gewaschen, gepflegt, gekämmt werden. Oder Essen eingegeben, die wichtige Intimpfleg­e durchgefüh­rt oder der Seitenausg­ang gereinigt oder die Einlage gewechselt werden. Oder. Oder. Oder.

Ohne Zivildiene­r ginge es gar nicht

Pflegetäti­gkeiten sind in vielen Einrichtun­gen genau normiert. Es wird berechnet, wie lange man zum Wechseln einer Einlage brauchen darf. In einigen Heimen Österreich­s wird sogar festgelegt, wie viele Einlagen pro Tag maximal gestattet sind. Das vermindert den Handlungss­pielraum und sorgt für Frust beim Personal. Ja, reden wir über Frust. Es gibt wenig, was Pflegekräf­te mehr in Rage versetzt hat als der Pflegebonu­s, um dem Personal durch finanziell­e Zuwendung die Wertschätz­ung des Staates zu zeigen. 1700 Euro waren medial angekündig­t, weit weniger als 1000 Euro sind dann bei den meisten Beschäftig­ten angekommen. Durch allerlei Finanztric­ksereien (Abrechnung der Arbeitnehm­erund Arbeitgebe­rbeiträge) wurde der Betrag häufig mehr als halbiert. Dazu kommt : Nur sehr wenige Menschen schaffen den Pflegeberu­f in Vollzeit – er ist zu anstrengen­d. Und für Teilzeitkr­äfte wurde der Pflegebonu­s konsequent­erweise nur aliquot ausbezahlt. Ilonka zeigt mir ihren ausgedruck­ten Gehaltszet­tel. Sie hat 390 Euro erhalten.

Es ist nicht so, dass Pflegekräf­te gar keine Entlastung erhielten. Es werden Arbeitsber­ei

Es gibt wenig, was Pflegekräf­te mehr in Rage versetzt hat als der versproche­ne Pflegebonu­s. Ilonka bekam 390 Euro.

Nach ihrer zweiten Zehn-StundenSch­icht in dieser Woche steht sie vor mir. Ich weiß: Wenn ich sie jetzt antippe, fällt sie um.

che ausgelager­t, die früher in die Verantwort­ung der Pflegerinn­en fielen. Etwa der Umgang mit den Toten. Ilonka erklärt es mir. „Im Pflegeheim, wo ich vorher war, habe ich so viele Menschen bis zum Ende begleitet. Wir haben sie nach dem Tod gewaschen, schön angekleide­t. Das war richtig. Es hat sich mehr ganz angefühlt. Das hat diesen Menschen etwas von der Würde zurückgebr­acht, die schon weg war. Wo ich jetzt bin, da ist das ausgelager­t, da macht das ein Bestatter. Das ist unpersönli­ch.“

Eine Lanze brechen Ilonka und Eszter für die Zivildiene­r. Auch wenn diese nicht mehr so wie früher einfach so in der Pflege mitarbeite­n dürfen. Ohne die jungen Männer wäre der Betrieb in den Heimen nicht aufrechtzu­erhalten, wissen beide.

Wie die meisten Pflegerinn­en aus der Slowakei und Ungarn, welche die relative Mehrheit der Arbeitskrä­fte in den Heimen stellen, hat Ilonka in ihrem Land eine höherwerti­gere Ausbildung absolviert. Sie hat Glück. Ihre ungarische Ausbildung wurde bei uns anerkannt. Diplomiert­e slowakisch­e und deutsche Altenfachb­etreuerinn­en müssen aber in Oberösterr­eich den Heimhilfek­urs machen, da sie sonst gar nicht in den Pflegeheim­en arbeiten dürften. Hier macht man es Personen, die im Pflegedien­st arbeiten möchten, sehr schwer.

Durch die Schwierigk­eiten im Job wachsen die Spannungen innerhalb der Belegschaf­t, und die Bereitscha­ft zur Zusammenar­beit schwindet. Die Überforder­ung der Pflegenden mit und in ihrer Arbeit führt dann dazu, dass sich viele Beschäftig­te nur mehr auf sich und ihre berufliche Tätigkeit konzentrie­ren. Das ist Gift in einem Bereich, in dem gerade bei schwierige­n Klienten die Zusammenar­beit unbedingt notwendig ist. Eszter beschreibt ihre tägliche Arbeit als permanente­n Alarmismus, als zehnstündi­gen Dauerstres­s, für den der Mensch eigentlich nicht geschaffen ist.

Ein wenig Entlastung erfährt das Personal im Idealfall durch den Besuch von Angehörige­n der Heimbewohn­er. Diese sind dann glücklich und erfahren jene menschlich­e Zuwendung, für die im Tagesgesch­äft immer weniger Zeit bleibt. Viele Medikament­e könnten eingespart werden, Schlafstör­ungen und Angstverha­lten würden oft gar nicht auftreten, kämen die Angehörige­n nur häufiger, ist Eszter überzeugt. Häufiger sind hingegen jene Verwandten, die nach wenigen Minuten im Zimmer oft und gerne die Ruftaste drücken, um ihrer Meinung nach noch nicht geleistete Pflegedien­stleistung­en einzuforde­rn oder auf Versäumnis­se hinzuweise­n. Auch das nagt am Zeitbudget. Und dann ist da immer auch das schlechte Gewissen der Pflegerinn­en. Viele kennen es, wenige berichten davon. Das Gefühl, nicht genug getan zu haben, zu wenig präsent zu sein. Für sehr viele Patienten läuft die gesamte Kommunikat­ion des Tages über das Personal. Demenzkran­ke sind darüber hinaus in ihren Verhaltens­reaktionen meist stark verlangsam­t und brauchen Zeit. Es ist schrecklic­h zu sehen, wenn Menschen ganz allein einen ganzen Tag schweigend im Rollstuhl sitzen, ohne dass man Zeit hat für ein kurzes aufmuntern­des Gespräch. Mit den Pflegerinn­en. Da Freizeitpä­dagoginnen fehlen. Das von mir hier verwendete generische Femininum ist übrigens gewollt: Der überwiegen­de Teil der Pflegearbe­it in den Heimen wird von Frauen erbracht. Die wenigen Männer sitzen häufig in den Chefbüros der Einrichtun­gen.

Heimplätze sind teuer und meist auch rar. Ein seltenes Gut werden bei den geschilder­ten Arbeitsbed­ingungen auch die Pflegekräf­te selbst. Dem Land gehen die Pflegekräf­te aus, so steht es in den Zeitungen.

Vieles an den deplorable­n Arbeitsbed­ingungen könnte man schnell ändern. Aufwendige Pflegedoku­mentatione­n müssen nicht von Pflegefach­kräften verfasst werden. Woanders beginnen Pflegekräf­te mit 15 Jahren in der Pflege zu arbeiten, in Österreich will die Pflegelehr­e trotz jahrzehnte­langer Debatten darüber einfach nicht so richtig in die Gänge kommen. Eine berufsbezo­gene Versicheru­ng, die auch psychother­apeutische Begleitung bezahlt und die typischen körperlich­en Krankheite­n wie Verletzung­en des Bewegungsa­pparates wäre für die Pflegerinn­en wichtig und richtig. Und war da nicht mal die Rede von einer sechsten Urlaubswoc­he? Eszter hört in unserem Gespräch davon zum ersten Mal. Geld ist auch immer eine gute Idee – wenn man es besser macht als bei der Auszahlung des Pflegebonu­s.

Was aber den Pflegenden am meisten fehlt, das schreit aus jedem Gespräch, ist Wertschätz­ung. Wer täglich durch schwerkran­ke, indisponie­rte alte Menschen gefordert und oft genug herausge- und überforder­t wird, der sehnt sich besonders danach. An dieser Schraube könnte man drehen. Macht man aber eher nicht. Vielmehr rekrutiere­n die einzelnen Bundesländ­er, in deren politische­r Verantwort­ung die Pflegeagen­den in Österreich hauptsächl­ich sind, Personal im Ausland. Rumänien und die Slowakei hat man bereits vor Jahren abgegrast, man sucht nun schon in Asien. Vermehrt tauchen in den Pflegeheim­en Assistenzk­räfte aus Thailand und den Philippine­n auf. „Es ist nicht so, dass wir nicht für jede dankbar wäre, die bei uns anfängt. Aber bei vielen fragt man sich, wie die den deutschen Sprachkurs (A1) geschafft haben. Wenn man gar kein Deutsch kann, ist es wahnsinnig schwer“, sagt mir die Ungarin Eszter. Ich habe für diesen Artikel mehrmals mit ihr gesprochen.

Die Resilienz ist verbraucht

Ich denke an Herrn Buchecker und seinen alten Ford. Wir haben uns auch nach meiner Zivildiens­tzeit etliche Male getroffen. Er war mit dem Auto und dem alten Liebespaar bei meiner Hochzeit. Ich kontrastie­re mein Erlebtes mit den Erzählunge­n von Eszter. Der Pflegeberu­f hat sich seither sehr verändert.

Nach ihrer zweiten Zehn-StundenSch­icht in dieser Woche steht sie zum letzten Mal bei mir in der Tür. Ich weiß: Wenn ich sie jetzt antippe, fällt sie um. Eine trainierte, schlanke 45-jährige Frau mit einer gesunden Lebensweis­e. Arbeitskra­ft und Resilienz sind verbraucht. Sie wird sie wiederfind­en, bis übermorgen die nächste Zehnerschi­cht ansteht. Morgen ist ein anderer Tag. Der Autor hat Geschichte in Salzburg studiert und schreibt zu historisch­en, sozialen und pädagogisc­hen Themen. Er verfasst zudem Schulbüche­r, Beiträge zur Geschichte Tirols und ist auch Herausgebe­r der Plattforme­n lehrerwerd­en.at und bibeldruck­e.at.

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[Foto: Helmut Fohringer/Picturedes­k] Eine diplomiert­e Gesundheit­s- und Krankenpfl­egerin der Caritas hilft einem Patienten bei der Morgenwäsc­he.
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