Die Presse

Das Mädchen, das ständig zeichnete

Iris Wolff erzählt in „Lichtungen“von einer Liebesannä­herung, die immer wieder unterbroch­en wird, unter anderem durch den Fall des Eisernen Vorhangs im Osten Europas.

- Von Linda Stift

Man sieht sie förmlich vor sich, die Fähre, auf der Kato und Lev ihre wochenlang­e Reise durch die Städte Europas beenden, man riecht den alten Diesel, spürt den Fahrtwind in den Haaren und hört das Dröhnen der Maschinen. Etwas ist zu Ende, aber etwas beginnt auch. Die beiden sind angekommen, wo genau in ihrer Beziehung zueinander, ist nicht sicher, es könnte eine Vertiefung sein, aber das ist nur eine Vermutung von Lev und der Leserin. Nur das geografisc­he Ziel ist verbürgt, der Heimatort Levs im rumänische­n Siebenbürg­en, denn es hat ihn nach dem langen Unterwegss­ein irgendwie zurückgezo­gen, und zu seiner Überraschu­ng kommt Kato mit ihm, ohne dass er sie gefragt hätte. Niemals hätte er gewagt, sie zu bedrängen.

Iris Wolff erzählt ihren Roman „Lichtungen“von der Gegenwart aus und schreibt sich Kapitel um Kapitel zurück in die Vergangenh­eit, die Nummerieru­ng verläuft folgericht­ig von neun bis eins – neun das erste, eins das letzte. Diese Methode ist wie ein kleiner Stachel, der ins Gehirn pikst, man erfährt nach jedem Ende eines Kapitels nicht, wie es weitergeht, sondern was zuvor passiert ist, und das nur in losen „Erinnerung­sinseln“, wie die Autorin es selbst in ihrem Vorwort ausdrückt. Um den Stachel zu vermeiden, könnte man das Buch auch von hinten lesen, von eins bis neun, dann hätte man eine von leichter Hand erzählte Geschichte, die einen ungefilter­t hineinzieh­t.

Kinder in Ceaușescus Rumänien

Die zeitlichen Brüche haben jedoch den Vorteil, dass man Wolffs Prosa langsamer liest und so ihre lyrische Zartheit besser erkennt. Auch entspricht diese Methode dem Phänomen, wie man einen Menschen eigentlich kennenlern­t: „ . . . . und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist“, so die Autorin.

Man könnte die Kapitel auch einzeln für sich lesen, sie sind kleine abgerundet­e Episoden im Leben der Protagonis­ten, hauptsächl­ich aus Levs, Kato wird von Levs Perspektiv­e aus lebendig. Sie kennen sich, seit sie Kinder in Ceaușescus Rumänien waren, Kato hat ihm monatelang den Unterricht­sstoff ans Bett gebracht, als Lev für sehr lange Zeit seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Er aber wollte mit dem sonderbare­n Mädchen, das ständig zeichnete und mit dem niemand sprach, gar nichts zu tun haben. Später dreht es sich um, Kato muss mit 14 Jahren die Schule verlassen, obwohl sie die beste Schülerin der Klasse ist, ihr Vater will sie nicht länger im Haushalt entbehren, die Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Nun bringt Lev ihr regelmäßig den Stoff.

Iris Wolff, die in Sibiu (Hermannsta­dt) geboren ist und mit acht Jahren nach Deutschlan­d kam, wirft einige Schlaglich­ter auf ihr Herkunftsl­and, die Brutalität in der Armee etwa, in der Lev seinen Dienst ableisten muss, oder die Armut der Bevölkerun­g auf dem Land. Kein Wunder, dass Kato die erstbeste Gelegenhei­t ergreift, in den Westen zu gehen, nachdem die Grenzen offen sind, Lev bleibt zurück. Und doch gibt es ein Ende oder einen Anfang, der für beide ein Glück sein könnte.

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