Lockdown-Doku: Übersicht statt „Covid-Chaos“
Wie war das noch mal mit der Pandemie? Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm „Stillstand“lässt die Coronazeit in Wien Revue passieren, in aller Nüchternheit. Und klärt dabei, warum die Krise vielen nicht wie eine solche vorkam.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener, trällerte einst Georg Kreisler. Nun, knapp 60 Jahre später, zeigt uns das jüngste Werk des österreichischen Dokumentarfilmkünstlers Nikolaus Geyrhalter: Es stimmt! Ob Schönbrunn, Stephansplatz oder Schottenring, Wien wirkt in den Eröffnungsbildern von „Stillstand“wie leergefegt – und sieht dabei sehr schön aus. Kein Stäubchen auf den Straßen, angenehm mattes Licht auf den Stuckfassaden, schmucke Austrian-Airlines-Flieger, die unter blauem Himmel friedlich auf Parkplätzen in Schwechat ruhen.
Hübsch. Nur: Warum sind hier (fast) keine Menschen zu sehen? Da war doch was, es ist noch gar nicht so lang her … Ach ja, Corona! Das leidige Virus, die Lockdowns und der ganze Rest. Liegt das nicht alles hinter uns, gottlob? Im Juni 2023 wurde die Pandemie doch ganz offiziell für „beendet“erklärt. Wozu die Sache jetzt im Kino wieder aufrollen?
Weil es gut- und nottut, sich darauf zu besinnen, was in den Covid-Jahren so passiert ist, aus der zeitlichen Distanz und mit aller Nüchternheit – um sich die Tragweite der Ereignisse im Bewusstsein zu halten und Lehren daraus zu ziehen: So könnte man das Movens hinter „Stillstand“zusammenfassen.
Corona, einmal ganz unaufgeregt
Geyrhalter ist als Filmemacher prädestiniert für diesen Job: Nüchternheit und Distanz sind quasi seine zweiten und dritten Vornamen. Zudem hat er viel Erfahrung im Abbilden schleichender Entwicklungen und komplexer soziologischer Zusammenhänge. Seine Dokus gehen sowohl in die Länge („Über die Jahre“) als auch in die Breite („Abendland“). All das kommt „Stillstand“zugute: Der Film ist zwar nicht die erste heimische Corona-Aufarbeitung für die Leinwand – zu nennen wären hier etwa „Vakuum“von Kristina Schranz und Gerald Igor Hauzenbergers „Denn sie wissen, was sie tun“. Aber doch die erste „große“, die einen holistischen Ansatz verfolgt und ein audiovisuelles Kompendium dessen darstellt, was Österreich in jener Zeit beschäftigt hat, administrativ und emotional.
Dabei ist „Stillstand“in erster Linie eines: übersichtlich. Was von manchen als „Corona-Chaos“empfunden wurde, wird hier unaufgeregt veranschaulicht, in für Geyrhalter typischen, tiefenscharfen Tableaus – die passenderweise meist stillstehen und von Interviewszenen punktiert werden. Böse Zungen könnten dem Film Schematismus vorwerfen. Seine über zwei Jahre hinweg gedrehte Corona-Revue hakt auf ihrem Weg durch die Parzellen des Gesellschaftsapparats fast alle bekannten Diskurspunkte ab: die Tragik der Triage, die Wissenskluft zwischen „Systemerhaltern“und „Leuten auf der Straße“, die psychische Belastung der Lockdowns für junge Menschen, die wirtschaftliche für Gewerbetreibende, die Protestaufmärsche …
Geyrhalters offene Ästhetik und kluge Wahl der Gesprächspartner sorgen dafür, dass das Ganze nicht zur reinen Rekapitulation verkommt. Immer wieder stechen markante Details ins Auge oder ins Ohr – von der Schülerin, die das Abstempeln ihrer Altersgruppe als verlorene „Corona-Generation“kritisiert („Find ich schiach“) über ein Balkonkonzert von Ernst Molden (mit seinem Sohn Karl am Bass) bis zu den hervorstechenden schwarzen Brems- und Landespuren auf dem gähnend leeren Flughafenrollfeld. Und falls Sie schon immer wissen wollten, wie mit den PCR-Gurgeltests nach Abgabe verfahren wurde: Hier sehen Sie’s.
Lob für das rote Wien
Eine klare politische Botschaft behält Geyrhalter wie immer zurück. Gleichzeitig schimmert sie, ebenfalls wie immer, zwischen den Bildern durch – dieses Mal vielleicht sogar etwas zu deutlich. Zwar handelt „Stillstand“dezidiert „nur“von Wien, doch aufgrund der modellhaften Konzeption des Films gerät die Stadt unweigerlich zur strittigen Stellvertreterin für ganz Österreich. Und es ist ganz klar das rote Wien, für dessen Umgang mit der Pandemie Geyrhalter hier eine Lanze bricht: Während man Gesundheitsstadtrat Peter Hacker bei der lösungsorientierten Videokonferenz im Rathaus über die Schulter schaut, tönt Sebastian Kurz aus dem Narrenkastl und verheißt „Licht am Ende des Tunnels“.
Unabhängig davon macht „Stillstand“etwas nachvollziehbar: Warum es für viele so schwer ist, die Coronakrise als Krise wahrzunehmen. Sie sieht einfach unspektakulär aus. Bei einer richtigen Pandemie – so hat es uns das (Hollywood-)Kino gelehrt – müssen Menschen schreiend und Blut spuckend aus Häusern stürzen, in Panik verfallen, die Zivilisation muss krachend in die Brüche gehen. Doch in einer Verwaltungsgesellschaft mit guter Infrastruktur ist das bei einem Virus, auch wenn es samt Folgen über 22.000 Tote fordert, nicht der Fall. Was für Geyrhalter kein Grund zur Skepsis ist – sondern ein Glück.