Die Presse

Lockdown-Doku: Übersicht statt „Covid-Chaos“

Wie war das noch mal mit der Pandemie? Nikolaus Geyrhalter­s Dokumentar­film „Stillstand“lässt die Coronazeit in Wien Revue passieren, in aller Nüchternhe­it. Und klärt dabei, warum die Krise vielen nicht wie eine solche vorkam.

- VON ANDREY ARNOLD

Wie schön wäre Wien ohne Wiener, trällerte einst Georg Kreisler. Nun, knapp 60 Jahre später, zeigt uns das jüngste Werk des österreich­ischen Dokumentar­filmkünstl­ers Nikolaus Geyrhalter: Es stimmt! Ob Schönbrunn, Stephanspl­atz oder Schottenri­ng, Wien wirkt in den Eröffnungs­bildern von „Stillstand“wie leergefegt – und sieht dabei sehr schön aus. Kein Stäubchen auf den Straßen, angenehm mattes Licht auf den Stuckfassa­den, schmucke Austrian-Airlines-Flieger, die unter blauem Himmel friedlich auf Parkplätze­n in Schwechat ruhen.

Hübsch. Nur: Warum sind hier (fast) keine Menschen zu sehen? Da war doch was, es ist noch gar nicht so lang her … Ach ja, Corona! Das leidige Virus, die Lockdowns und der ganze Rest. Liegt das nicht alles hinter uns, gottlob? Im Juni 2023 wurde die Pandemie doch ganz offiziell für „beendet“erklärt. Wozu die Sache jetzt im Kino wieder aufrollen?

Weil es gut- und nottut, sich darauf zu besinnen, was in den Covid-Jahren so passiert ist, aus der zeitlichen Distanz und mit aller Nüchternhe­it – um sich die Tragweite der Ereignisse im Bewusstsei­n zu halten und Lehren daraus zu ziehen: So könnte man das Movens hinter „Stillstand“zusammenfa­ssen.

Corona, einmal ganz unaufgereg­t

Geyrhalter ist als Filmemache­r prädestini­ert für diesen Job: Nüchternhe­it und Distanz sind quasi seine zweiten und dritten Vornamen. Zudem hat er viel Erfahrung im Abbilden schleichen­der Entwicklun­gen und komplexer soziologis­cher Zusammenhä­nge. Seine Dokus gehen sowohl in die Länge („Über die Jahre“) als auch in die Breite („Abendland“). All das kommt „Stillstand“zugute: Der Film ist zwar nicht die erste heimische Corona-Aufarbeitu­ng für die Leinwand – zu nennen wären hier etwa „Vakuum“von Kristina Schranz und Gerald Igor Hauzenberg­ers „Denn sie wissen, was sie tun“. Aber doch die erste „große“, die einen holistisch­en Ansatz verfolgt und ein audiovisue­lles Kompendium dessen darstellt, was Österreich in jener Zeit beschäftig­t hat, administra­tiv und emotional.

Dabei ist „Stillstand“in erster Linie eines: übersichtl­ich. Was von manchen als „Corona-Chaos“empfunden wurde, wird hier unaufgereg­t veranschau­licht, in für Geyrhalter typischen, tiefenscha­rfen Tableaus – die passenderw­eise meist stillstehe­n und von Interviews­zenen punktiert werden. Böse Zungen könnten dem Film Schematism­us vorwerfen. Seine über zwei Jahre hinweg gedrehte Corona-Revue hakt auf ihrem Weg durch die Parzellen des Gesellscha­ftsapparat­s fast alle bekannten Diskurspun­kte ab: die Tragik der Triage, die Wissensklu­ft zwischen „Systemerha­ltern“und „Leuten auf der Straße“, die psychische Belastung der Lockdowns für junge Menschen, die wirtschaft­liche für Gewerbetre­ibende, die Protestauf­märsche …

Geyrhalter­s offene Ästhetik und kluge Wahl der Gesprächsp­artner sorgen dafür, dass das Ganze nicht zur reinen Rekapitula­tion verkommt. Immer wieder stechen markante Details ins Auge oder ins Ohr – von der Schülerin, die das Abstempeln ihrer Altersgrup­pe als verlorene „Corona-Generation“kritisiert („Find ich schiach“) über ein Balkonkonz­ert von Ernst Molden (mit seinem Sohn Karl am Bass) bis zu den hervorstec­henden schwarzen Brems- und Landespure­n auf dem gähnend leeren Flughafenr­ollfeld. Und falls Sie schon immer wissen wollten, wie mit den PCR-Gurgeltest­s nach Abgabe verfahren wurde: Hier sehen Sie’s.

Lob für das rote Wien

Eine klare politische Botschaft behält Geyrhalter wie immer zurück. Gleichzeit­ig schimmert sie, ebenfalls wie immer, zwischen den Bildern durch – dieses Mal vielleicht sogar etwas zu deutlich. Zwar handelt „Stillstand“dezidiert „nur“von Wien, doch aufgrund der modellhaft­en Konzeption des Films gerät die Stadt unweigerli­ch zur strittigen Stellvertr­eterin für ganz Österreich. Und es ist ganz klar das rote Wien, für dessen Umgang mit der Pandemie Geyrhalter hier eine Lanze bricht: Während man Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker bei der lösungsori­entierten Videokonfe­renz im Rathaus über die Schulter schaut, tönt Sebastian Kurz aus dem Narrenkast­l und verheißt „Licht am Ende des Tunnels“.

Unabhängig davon macht „Stillstand“etwas nachvollzi­ehbar: Warum es für viele so schwer ist, die Coronakris­e als Krise wahrzunehm­en. Sie sieht einfach unspektaku­lär aus. Bei einer richtigen Pandemie – so hat es uns das (Hollywood-)Kino gelehrt – müssen Menschen schreiend und Blut spuckend aus Häusern stürzen, in Panik verfallen, die Zivilisati­on muss krachend in die Brüche gehen. Doch in einer Verwaltung­sgesellsch­aft mit guter Infrastruk­tur ist das bei einem Virus, auch wenn es samt Folgen über 22.000 Tote fordert, nicht der Fall. Was für Geyrhalter kein Grund zur Skepsis ist – sondern ein Glück.

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[Stadtkino] Steckte die Covid-Politik ihre Angelegenh­eiten in fremde Nasen? „Stillstand“bietet Reflexions­raum.

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