Ivy, ermordet in Hartheim
Schloss Hartheim war der Ort von massenhaften Tötungen behinderter Menschen. Eine Ausstellung in der Gedenkstätte arbeitet Lebenswege von Opfern auf.
Die Britin Helen Atherton lehrt als Pflegewissenschaftlerin an der Universität Leeds, sie ist Expertin für die Ausbildung von Pflegepersonal im Umgang mit intellektuell beinträchtigen Personen. Bei ihren historischen Recherchen kam sie vor einigen Jahren auch in das oberösterreichische Schloss Hartheim. Das seit dem 17. Jahrhundert existierende Renaissancegebäude war während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich im Besitz des Reichsgaus Oberdonau, es war zuvor ein Unterkunftsort für geistig behinderte Menschen gewesen. Nach der Auflösung des alten Wohltätigkeitsvereins erfolgte im Frühjahr 1940 binnen weniger Wochen der Umbau zu einer NS-Euthanasieanstalt.
Ab dem Mai dieses Jahres wurde hier in einer Gaskammer mithilfe von Kohlenmonoxid gemordet, die Opferzahl stieg bis 1944 auf 30.000. Im Rahmen einer sogenannten Aktion T4 tötete das Regime Personen mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Insassen von psychiatrischen Anstalten und Pflegeeinrichtungen, in der Sprache von damals „Ballastexistenzen“und „lebensunwertes Leben“. Insgesamt wurden rund 70.000 Menschen getötet, darunter auch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Der Codename ging zurück auf die Adresse der zuständigen Organisation in der Tiergartenstraße 4 in Berlin.
Den Opfern eine Stimme geben
Es ist wichtig, sich an die Opfer des Euthanasieprogramms zu erinnern, doch nur in wenigen Fällen lässt sich das individuelle Schicksal rekonstruieren. Die Opfer haben keine Stimme und kein Gesicht mehr. Damit sind wir wieder bei Helen Atherton: Sie fragte in der heutigen Lern- und Gedenkstätte Hartheim, in der das Geschehen wissenschaftlich aufgearbeitet wird, nach, ob es unter den Opfern auch solche mit biografischem Bezug zu Großbritannien gibt. Das Team unter der Leitung von Florian Schwanninger recherchierte zusammen mit Forschern aus England und Deutschland in allen sechs NS-Tötungsanstalten der „Aktion T4“.
So kam das Schicksal von Ivy Angerer ans Licht, die als Kind österreichischer und deutscher Auswanderer 1911 in Schottland geboren wurde. Während des Ersten Weltkriegs brach in Großbritannien eine stark deutschfeindliche Strömung aus. Deshalb kehrte die Familie zurück, zuerst nach Deutschland und nach dem Tod der Mutter nach Österreich, Ivy lebte mit dem Vater in Wien. Dort wurde sie wegen ihrer Lernbehinderung in den 1930er-Jahren in die Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof eingewiesen. Von hier brachte man sie am 12. August 1940 nach
Hartheim, wo sie im Alter von 29 Jahren ermordet wurde.
Durch die Recherchen in Archiven, Akten und auf Friedhöfen stießen die Forscher auf Ivys Familienmitglieder. Sie stimmten der Veröffentlichung von Ivys Geschichte zu. 2019 übergaben sie ein umfangreiches Familienarchiv mit historischen Dokumenten und zahlreichen Fotos, es ist heute im Gedenkort Hartheim.
Tarnung und Verschleierung
Die Dokumente zeigen, wie die Nazis systematisch die Faktenlage verfälschten. In der Mitteilung zum Tod Ivys wurde als Sterbeort nicht Hartheim angegeben, sondern die Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein in der Nähe von Dresden, ebenfalls ein Ort nationalsozialistischer Euthanasieaktionen. Im Keller dieser Anstalt wurden rund 14.000 Personen in einer Gaskammer getötet. „Die Tötungsanstalten der ,Aktion T4‘ tauschten zur Tarnung und Verschleierung untereinander die Dokumente der Ermordeten aus“, so Schwanninger. Ivys Vater glaubte also bis zu seinem Tod, dass seine Tochter in Pirna-Sonnenstein verstorben war. Er wusste jedoch, dass es um eine Ermordung ging.
In der Mitteilung an ihn vom 2. September 1940, die eingeleitet wurde mit den Worten „Zu unserem großen Bedauern“, war von einem unerwarteten Tod durch akuten Leberschwund die Rede. „Alle unsere ärztlichen Bemühungen waren leider vergebens“, der Tod daher „eine Erlösung“. Die Verstorbene sei eingeäschert worden, die Urne abholbereit. Freilich war darin die Asche eines fremden Menschen, die in Wien ein würdiges Begräbnis erhielt. Auch die ansehnliche Parte zeigt, wie hochgeschätzt Ivy in ihrer Familie war, in dieser Zeit angesichts ihrer Beeinträchtigung wohl keine Selbstverständlichkeit.
Eine aktuelle, soeben eröffnete Ausstellung über die Lebenswege von 13 in Großbritannien geborenen Opfern liefert einen tiefen Einblick in die Schicksale dieser Menschen. Ein Beispiel ist die Geschichte von Martha Büchel, der Schwägerin des berühmten Londoner Künstlers Charles Büchel, die 1941 im Rahmen der „Aktion T4“ermordet wurde. Ein weiteres Beispiel ist Marguerite (Daisy) Baruch, die Mutter von Jack Bilbo, dem deutsch-britischen Surrealisten, die ebenfalls mit einer psychiatrischen Diagnose ermordet wurde. Weiters Gladys Marx, deren Familie an der Spitze einiger der größten Unterhaltungslokale in Berlin stand.
Der Titel der Ausstellung wurde zu Ehren von Ivy gewählt, da ihr Schicksal am Anfang des Projekts stand: „Finding Ivy. A Life Worthy of Life“wurde am 27. Jänner in Anwesenheit der Familienangehörigen eröffnet, ist zweisprachig und als Wanderausstellung konzipiert, mit den Stationen Großbritannien, Deutschland und USA. „Ivys Biografie“so Helen Atherton, „ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der NS-Euthanasie, regt aber auch dazu an, die Einstellung zu den Schwächsten von heute, insbesondere zu Menschen mit Lernschwierigkeiten, kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, inwieweit sie wirklich als geschätzte Bürger akzeptiert werden. Das Beispiel der nationalsozialistischen Euthanasie zeigt auf schockierende Weise, wohin eine rein wirtschaftliche Betrachtung des Werts des menschlichen Lebens im schlimmsten Fall führen kann. Ivys Geschichte enthält eine eindringliche Botschaft über die absolute Notwendigkeit, die Zugehörigkeit von Menschen mit Behinderungen zur Gemeinschaft bzw. zur Gesellschaft zu fördern. Wir müssen diese Botschaft hören und uns immer an Ivy erinnern.“