Die Presse

Was Amerikas Niedergang wirklich einleiten könnte

Die US-Bürger haben vom Aufstieg des populistis­chen Nationalis­mus zu Hause mehr zu befürchten als vom Aufstieg Chinas.

- VON JOSEPH S. NYE

Die meisten US-Bürger glauben, dass sich die USA im Niedergang befinden. Donald Trump behauptet daher, er könne die USA zu alter Größe zurückführ­en („Make America Great Again“). Doch ist Trumps Prämisse schlicht falsch – und die größte Bedrohung für die USA geht von den von ihm vorgeschla­genen Abhilfemaß­nahmen aus.

US-Bürger haben sich in ihrer Geschichte immer wieder Sorgen über einen Niedergang gemacht. Schon kurz nach Gründung der Kolonie an der Massachuse­tts Bay im 17. Jahrhunder­t beklagten einige Puritaner den Verlust früherer Tugendhaft­igkeit. Im 18. Jahrhunder­t studierten die Gründervät­er im Rahmen ihrer Überlegung­en, wie sich die neue amerikanis­che Republik bewahren ließe, die römische Geschichte.

Im 19. Jahrhunder­t äußerte Charles Dickens, dass, wenn man den Amerikaner­n Glauben schenke, ihr Land „immer in der Depression steckt, immer stagniert und sich immer in einer Besorgnis erregenden Krise befindet, und dass es nie anders war“. Auf dem Deckblatt einer Zeitschrif­t aus dem Jahr 1979, in der es um den nationalen Niedergang geht, laufen der Freiheitss­tatue Tränen über die Wangen.

Psychologi­sche Befindlich­keit

Doch während sich die US-Bürger seit Langem zum „goldenen Glanz der Vergangenh­eit“hingezogen fühlen, waren die USA nie so mächtig, wie viele meinen. Selbst mit überlegene­n Ressourcen haben sie es oft nicht geschafft zu erreichen, was sie wollten. Wer glaubt, dass die heutige Welt komplexer und turbulente­r sei als die Vergangenh­eit, sollte sich an ein Jahr wie 1956 erinnern, als die USA nicht imstande waren, die sowjetisch­e Unterdrück­ung eines Aufstands in Ungarn zu verhindern.

Phasen der Fixierung auf den eigenen Niedergang sagen mehr über die psychologi­schen Befindlich­keiten

der Menschen aus als über die geopolitis­che Lage. Trotzdem trifft die Idee des Niedergang­s in der US-Politik eindeutig einen empfindlic­hen Nerv, was sie zum gedeihlich­en Nährboden für parteipoli­tische Konflikte macht.

Manchmal führt die Angst vor dem Niedergang zu protektion­istischen Maßnahmen, die mehr schaden als nutzen. Und manchmal führen Phasen der Hybris zu selbstüber­hebenden Maßnahmen wie dem Irak-Krieg. Es bringt nichts, die Macht Amerikas zu unter- oder auch zu überschätz­en.

Was die Geopolitik angeht, so ist es wichtig, zwischen absolutem und relativem Niedergang zu unterschei­den. In einem relativen Sinne befinden sich die USA seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Niedergang. Nie wieder wird die Hälfte der Weltwirtsc­haft auf sie entfallen, während sie zugleich ein Atomwaffen-Monopol innehatten (die Sowjetunio­n entwickelt­e 1949 Atomwaffen). Der Weltkrieg hatte die amerikanis­che Volkswirt

schaft gestärkt und die aller anderen geschwächt. Doch mit der wirtschaft­lichen Erholung der übrigen Welt sank der Anteil der USA am globalen BIP bis 1970 auf ein Drittel (was in etwa ihrem Anteil am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entsprach).

Präsident Richard Nixon betrachtet­e dies als Zeichen des Niedergang­s und gab die Bindung des Dollars an den Goldpreis auf. Doch auch ein halbes Jahrhunder­t später bleibt der Greenback die wichtigste Währung, der Anteil der USA am globalen BIP liegt noch immer bei rund einem Viertel, und auch ihren Sieg im Kalten Krieg hat der vermeintli­che „Niedergang“der USA nicht verhindert.

Heute wird als Beleg für den amerikanis­chen Niedergang häufig der Aufstieg Chinas angeführt. Verengt auf die Machtverhä­ltnisse zwischen diesen beiden Ländern, gab es tatsächlic­h eine Verschiebu­ng zugunsten Chinas, die sich als relativer Niedergang der USA darstellen lässt. Doch absolut gesehen sind die Vereinigte­n Staaten noch immer mächtiger als China und dürften es bleiben.

Sechs langfristi­ge Vorteile

China ist ein beeindruck­ender Wettbewerb­er, aber mit erhebliche­n Schwächen. Was das Machtgleic­hgewicht insgesamt angeht, haben die USA mindestens sechs langfristi­ge Vorteile. Der erste ist die geografisc­he Lage. Die USA sind von zwei Ozeanen und zwei befreundet­en Nachbarn umgeben, während China Grenzen zu 14 Ländern hat, wobei mit mehreren davon territoria­le Streitigke­iten bestehen, darunter mit Indien.

Ein zweiter Vorteil ist die relative Unabhängig­keit der USA bei der Energiever­sorgung, während China von Importen abhängig ist. Drittens ziehen die USA Macht aus ihren großen transnatio­nalen Finanzinst­ituten und der internatio­nalen Rolle des Dollars. Eine glaubwürdi­ge Reservewäh­rung muss frei konvertier­bar sein und in Kapitalmär­kten und im Rechtsstaa­t wurzeln – was auf China nicht zutrifft. Viertens haben die USA einen relativen demografis­chen Vorteil: Sie sind das einzige wichtige Industriel­and, das derzeit seinen Platz (Rang drei) im globalen Bevölkerun­gsranking hält. In sieben der 15 weltgrößte­n Volkswirts­chaften wird die Erwerbsbev­ölkerung im Laufe des nächsten Jahrzehnts schrumpfen, während sie in den USA wachsen dürfte. Chinas Erwerbsbev­ölkerung hat 2014 ihren Zenit überschrit­ten.

Ist 2024 der Wendepunkt?

Fünftens sind die USA bei Schlüsselt­echnologie­n (Bio-, Nano- und Informatio­nstechnolo­gie) seit Langem vorn dabei. China investiert stark in Forschung und Entwicklun­g; es erreicht inzwischen hohe Werte bei Patentanme­ldungen. Doch laut eigenen Kennzahlen sind seine Forschungs­einrichtun­gen noch immer nicht so gut wie die der USA. Und zu guter Letzt zeigen internatio­nale Umfragen, dass die USA China im Bereich der Soft Power überlegen sind.

Alles in allem halten die USA im Konkurrenz­kampf der Großmächte des 21. Jahrhunder­ts gute Karten. Doch wenn sich die US-Bürger der Hysterie über Chinas Aufstieg oder der Selbstzufr­iedenheit über Chinas „überschrit­tenen Zenit“hingeben, werden sie diese Karten womöglich schlecht ausspielen. Gute Karten – darunter starke Bündnisse und Einfluss in den internatio­nalen Institutio­nen – abzuwerfen, wäre ein schwerer Fehler. Statt den USA zu alter Größe zu verhelfen, könnte es sie enorm schwächen.

Die US-Bürger haben vom Aufstieg des populistis­chen Nationalis­mus zu Hause mehr zu befürchten als vom Aufstieg Chinas. Populistis­che Maßnahmen wie die Weigerung, die Ukraine zu unterstütz­en, oder der Austritt aus der Nato würden der Soft Power der USA schweren Schaden zufügen. Falls Trump im November die Präsidents­chaftswahl gewinnt, könnte 2024 einen Wendepunkt für die US-Macht darstellen. Das Gefühl des Niedergang­s könnte dann erstmals gerechtfer­tigt sein.

Fragilität der US-Demokratie

Selbst wenn seine äußere Macht dominant bleibt, kann ein Land seine innere Tugend und seine Attraktivi­tät für andere einbüßen. Benjamin Franklin hat die von den Gründervät­ern geschaffen­e Regierungs­form der USA einmal wie folgt beschriebe­n: „eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt“. Die Entwicklun­g, die tatsächlic­h einen Niedergang Amerikas verursache­n könnte, ist die zunehmende Polarisier­ung und Fragilität der amerikanis­chen Demokratie.

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