Die Presse

Tauziehen um die Bundesverf­assung

Die Bundesländ­er bestanden einst auf ihrer Autonomie, die Christlich­sozialen erwogen die Wehrpflich­t für Frauen, die Sozialdemo­katen kämpften gegen kirchliche­n Einfluss.

- VON ERICH WITZMANN

Für die Rechtsprec­hung ist es nach wie vor der Maßstab ihrer Entscheidu­ngen: das Bundes-Verfassung­sgesetz (B-VG) mit seinen Reformen von 1925 und 1929 und weiteren 130 Novellen. Allerdings konnte auch eine „elegante Verfassung“(so nannte sie Alexander Van der Bellen liebevoll), wie Österreich sie mit dem BVG 1920 erhalten hatte, 13 Jahre später die Ausschaltu­ng des Parlaments nicht verhindern.

„Das kriegswirt­schaftlich­e Ermächtigu­ngsgesetz aus dem Jahr 1917 wurde mit in die Rechtsordn­ung der Republik übernommen“, sagt Richard Lein vom Institut für Rechtsgesc­hichte der Universitä­t Wien. Und dieses Notverordn­ungsrecht nutzte 1933 Engelbert Dollfuß zur Einführung seiner autoritäre­n Staatsführ­ung.

Sechs Entwürfe von Kelsen

Bei einer Auftaktver­anstaltung Ende Jänner im Haus-, Hof- und Staatsarch­iv wurden kürzlich neue Forschungs­ergebnisse zum B-VG 1920 präsentier­t. Beteiligt an dem Editionspr­ojekt sind die Universitä­t Wien, die Universitä­t Freiburg (Hans-Kelsen-Forschungs­stelle), die Österreich­ische Akademie der Wissenscha­ften (Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage) sowie das Österreich­ische Staatsarch­iv.

Ausgangspu­nkt bilden insgesamt 42 Verfassung­sentwürfe und Textvarian­ten. Allein von dem Rechtswiss­enschaftle­r Hans Kelsen (1881–1973), der als Vater der österreich­ischen Verfassung gilt, lagen vor Beginn der Beratungen sechs Entwürfe vor, sagt Lein, der gemeinsam mit der Rechtswiss­enschaftle­rin Miriam Gassner das Forschungs­team in Wien bildet.

Der erste Verfassung­sentwurf der Christlich­sozialen aus dem Mai 1919 spielte für die Verfassung­sentwicklu­ng eine größere Rolle als bisher angenommen, erläutert Lein. Dabei weist der Neuzeithis­toriker auf ein bemerkensw­ertes Detail hin: In dem in erster Linie von Michael Mayr (ab Juli 1920 Staats-, dann Bundeskanz­ler) verfassten

Papier findet sich die in Europa weitgehend unübliche Wehrpflich­t für Frauen (Artikel 13). Ausgenomme­n sollten nur Frauen mit Kindererzi­ehungspfli­chten, also Mütter, sein. Dieser Passus wurde aber nicht weiter verfolgt.

Der Einfluss der Kirche

Unter den 42 Vorlagen finden sich eben jene sechs von Kelsen, weitere von der Christlich­sozialen Partei, der Sozialdemo­kratischen Partei und der Großdeutsc­hen Partei sowie der Staatskanz­lei und Entwürfe aus den Ländern wie aus Tirol und Salzburg. Die größten Differenze­n ergaben sich zwischen den Christlich­sozialen und den Sozialdemo­kraten sowie den Zentralist­en und den Föderalist­en.

Die Länder forderten schon deshalb ein bedeutende­s Mitsprache­recht, weil sie ja „gewisserma­ßen erst dem österreich­ischen Staatswese­n beitreten mussten“, schildert Lein. „Die Länder wollten autonom und nicht wie in der Monarchie an der kurzen Leine gebunden sein.“Die alte Monarchie gab es nicht mehr, die sieben Bundesländ­er (Wien war noch ein Teil Niederöste­rreichs, Burgenland bei Ungarn) fühlten sich gleichsam selbststän­dig. Die Verhandlun­gen bildeten den Ausgangspu­nkt für den auch heute noch bestehende­n Föderalism­us.

Religionsu­nterricht angezählt

Zwischen den Parteien entwickelt­e sich ein Tauziehen um den Einfluss der Kirche. Die Sozialdemo­kraten wollten eine strikte Trennung von Kirche und Staat, etwa bei der Eheschließ­ung (obligatori­sche Zivilehe in Österreich erst ab 1938) und in der Schule. So sollte der Religionsu­nterricht als Teil des ordentlich­en Unterricht­s fallen, wobei dies bis heute wegen des bestehende­n Konkordats zwischen Österreich und dem Vatikan nicht erreicht wurde. Die Christlich­sozialen setzten sich in den Religionsf­ragen letztlich durch.

Das BV-G wurde schließlic­h am 1. Oktober 1920 von der Konstituie­renden Nationalve­rsammlung beschlosse­n. Die Reform von 1929, welche die Befugnisse des Bundespräs­identen deutlich ausweitete, fand übrigens nicht die Zustimmung Kelsens.

Resultate sind öffentlich

Das sowohl vom Österreich­ischen Wissenscha­ftsfonds (FWF) als auch von der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft (DFG) unterstütz­te Forschungs­projekt ist im Vorjahr mit einer dreijährig­en Laufzeit gestartet. Die Quellen und Ergebnisse werden auf einer Open-AccessPlat­tform für alle Interessie­rte zugänglich gemacht.

Die bisher digitalisi­erten Dokumente, insgesamt rund 4500 Seiten, sind bereits jetzt auf der Website bvg.acdh.oeaw.ac.at einsehbar. Der wissenscha­ftliche Kommentar und die übrigen Texte werden laufend ergänzt.

Die Länder wollten nicht an der kurzen Leine gebunden sein. Richard Lein, Historiker, Uni Wien

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[Österreich­ische Nationalbi­bliothek] Die neue Verfassung: So berichtete die österreich­ische Wochenzeit­ung „Das interessan­te Blatt“1920.

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