„Rhetorik passt sich Bedürfnissen der Zeit an“
Die Literaturwissenschaftlerin Anita Traninger ist seit 20 Jahren an der Freien Universität Berlin. Gerade hat sie dort ein Zentrum gegründet, um die Wirksamkeit von Sprache in medialen Umbruchzeiten zu erforschen.
VON USCHI SORZ
Wohl nicht von ungefähr agierte die Mitarbeiterin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) umsichtig. Bevor sie Anita Traninger am Telefon die Neuigkeit überbrachte, vergewisserte sie sich, dass sie diese sitzend antraf. Traninger ist Professorin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität (FU) Berlin. Und die Nachricht der DFG hatte durchaus Gleichgewichtsgefährdungspotenzial:
Sie erkannte ihr die höchste akademische Auszeichnung Deutschlands zu, den GottfriedWilhelm-Leibniz-Preis. „Das kam völlig unerwartet“, erzählt die gebürtige Niederösterreicherin. Das war im Dezember 2022, im März darauf wurde ihr der Preis übergeben. Traninger sei eine der internationalen Schlüsselfiguren der Romanistik, begründete dies die DFG. Wie sich die Rhetorik wandelt
Nun setzt sie ein Herzensprojekt um, das ihr die großzügige Dotierung des Leibniz-Preises ermöglicht. Dieser gilt nicht nur als „Nobelpreis der Geisteswissenschaften“, sondern fällt mit 2,5 Millionen Euro mehr als doppelt so hoch aus als jener. Die Literaturwissenschaftlerin und Romanistin gründete damit an der FU das Zentrum Echo, das seit Beginn 2024 aktiv ist und sich in den kommenden sieben Jahren der Erforschung der Rhetorik zwischen alten und neuen Medien widmen wird.
„In der frühen Neuzeit gab es genauso wie heute große mediale Umbruchsituationen. Indem wir Tiefenbezüge zwischen historischen und aktuellen Phänomenen herausarbeiten, wollen wir neue Blickwinkel auf beide eröffnen“, sagt Traninger. Ob die Erfindung des Buchdrucks um 1500, die Etablierung der periodischen Presse ab 1700 oder die sozialen Medien unserer Zeit: „Dass sich Leute medial hitzige Wortgefechte liefern, passiert nicht zum ersten Mal in der Geschichte.“Sie interessiere, wie Rhetorik in den jeweiligen Konstellationen wirksam werde: „Diese ist nicht in Stein gemeißelt, sondern passt sich den Bedürfnissen der
Zeit an. Um in ihrem Umfeld zu überzeugen, müssen die Akteure über wirksame Sprache nachdenken.“Rhetorik und Wissensgeschichte der frühen Neuzeit sind ein Schwerpunkt Traningers. Zwar zieht sie in ihrer Arbeit nicht zwingend Parallelen zur Gegenwart, sie hat auch über Ritterromane im 16. Jahrhundert, Flaubert, Montaigne oder Erasmus von Rotterdam geschrieben. Doch häufig geht es ihr darum, Dynamiken des Kulturund Wissenstransfers in neuer Perspektive zu erschließen.
Schon lang spürt sie Begriffen wie Redefreiheit oder Unparteilichkeit in der Wissenschaft nach. „Ich möchte bewusst machen, dass manche unserer vermeintlich universellen Werte relativ jung sind. Um herauszufinden, warum wir gerade diese haben und keine anderen, ist die Geschichte ein guter Schlüssel.“
Auch das Leibniz-Projekt berührt diese Themen. Unparteilichkeit als argumentatives Ideal sei erst mit dem Auftreten periodischer Zeitschriften im 17. Jahrhundert aufgetaucht, so Traninger. Infolgedessen hätten sich Dispute auf die textliche Ebene verlagert. „Ähnlich wie in den modernen sozialen Medien brachte das empört geführte, emotional aufgestachelte Debatten mit sich.“In der frühen Neuzeit ging dies jedoch mit dem Bestreben einher, Eskalationen durch Verhaltensnormen einzuhegen. „Man verstand unter Unparteilichkeit, sich selbst zurückzunehmen und seine Haltung so zu reflektieren, als wäre sie nicht die eigene.“Vergleichbares sehe sie heute kaum, beantwortet die Forscherin die Frage, wie sie denn von der historischen Warte aus die Tonalität auf X (vormals Twitter) und Co. beurteile. „Momentan fehlen sowohl ein breiter Diskurs darüber als auch Konsens.“Natürlich habe die Idee der Unparteilichkeit auch damals nicht immer funktioniert. „Aber es war allgemein akzeptiert, dass sie anzustreben sei.“ Forscherin im zweiten Anlauf
Als amüsante Randnotiz in Traningers Werdegang könnte man ihre persönliche Erfahrung mit einer Diskussionskultur betrachten, an die sie sich als Österreicherin erst gewöhnen musste. „In Berlin geht es viel härter und kontroverser zur Sache.“Dass sie da nach nunmehr 20 Jahren locker mithält, sich „akademisch längst als Berlinerin“fühlt und täglich mit ihrem Rad zur FU flitzt, ist einem glücklichen Zufall geschuldet. Sie hat in Wien studiert, war schon vor ihrer Promotion berufstätig und hatte mit 34 eine attraktive Lebenszeitposition als Geschäftsführerin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Dann begegnete sie auf einer Tagung dem damaligen Vizepräsidenten der FU Berlin, der sie einlud, sich dort um eine ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Diese Chance ergriff sie.
„Wie herausfordernd es sein würde, in einem so hochkompetitiven Wissenschaftssystem wie dem deutschen zu bestehen, war mir allerdings nicht klar“, erinnert Traninger sich mit einem Lachen. Dennoch sei Berlin als Wissenschaftsstandort unschlagbar. Die großen interdisziplinären Forschungsverbünde, Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster der FU seien herausragend. „In den Geisteswissenschaften haben wir die größte Breite an Disziplinen in ganz Deutschland.“
In der Debattenkultur des 17. und 18. Jahrhunderts galt Unparteilichkeit als Ideal. Anita Traninger, Literaturwissenschaftlerin, FU Berlin