Eine Renaissance der Flüsse ist gefragt
Die EU will per Verordnung zur Wiederherstellung stark dezimierter Lebensräume verpflichten. Limnologe Thomas Hein über den Zustand der Flüsse und Wege zur Rettung des Ökosystems.
Die Presse: Bitte zu Beginn um einen Kurzbefund: Wie geht es unseren Flüssen?
Thomas Hein: Nicht sehr gut. Über die Hälfte der Gewässer ist in keinem ökologisch guten Zustand. Mehr als 60 Prozent der Fischarten in Österreich sind gefährdet. Und auch andere Arten, die den Bodenraum bewohnen, Wasserpflanzen oder Algen weichen deutlich vom Referenzzustand „ökologisch gut“ab. Das nehmen wir so nicht wahr, wenn wir in der Landschaft spazieren gehen. Gewässer wirken teilweise intakt, sind aber meist begradigt. Probleme sind auch Querbauwerke oder die Abtrennung von Überschwemmungsflächen. All das führt dazu, dass es zu einer Monotonisierung, zu einer Verarmung der Gewässerfauna, kommt.
Regt der Schwund der Flusslandschaften die Menschen mitunter weniger auf als andere Naturzerstörungen, weil man nicht sieht, was unter Wasser mit Flora und Fauna passiert?
Ja, es ist eine der Herausforderungen, dass hier das unmittelbare Erleben nicht gegeben ist. Wir beobachten das selbst in einem Christian-Doppler-Labor: Auch für uns ist es oft überraschend zu sehen, was an Bodenfauna da ist. Viele Methoden waren oder sind noch gar nicht entwickelt, um unter Wasser feststellen zu können, wie die Situation ist. In terrestrischen Bereichen, also etwa in Wald-, Wiesen- oder Ackerland, ist es leichter zu sehen, was die Degradierung einer Landschaft bedeutet.
Wenn Sie etwa warnen, dass die Lobau zur Steppe wird, regt das die Leute mehr auf.
Ja. Hier zeigen sich auch entsprechende Warnsignale, doch die Prozesse laufen langsam ab. Diese Entwicklung kann aber durch den Klimawandel beschleunigt werden.
Sie waren Geschäftsführer des Wasserclusters Lunz. Wie spürt man den Wandel dort?
In Österreich haben wir generell einen Wasserreichtum, vor allem im Westen. Im Osten schränkt sich dieser regional zunehmend ein. Und wir haben, auch in Lunz, immer noch hohe Niederschläge, aber sehen, dass sich die Niederschlagssituation im Winter stark ändert: Verschiebung von Schnee zu
Regen und damit von einer Speicherung in der Landschaft zu momentanem Abfluss. Und dass sich die Eisbedeckung des Sees deutlich reduziert: von mehreren Monaten auf rund ein Monat, die Reduktion geht sehr rasant. Dazu kommt, dass die Grundwasserstände auch in diesen Regionen sinken. Die EU will mit einer „Verordnung zur Wiederherstellung der Natur“stark dezimierte Lebensräume restaurieren. Sie haben jetzt, kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes, gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Bienenfischerei Berlin zentrale Herausforderungen für die Umsetzung an Flüssen identifiziert. Welche sind das?
Dieses Gesetz ist aus Sicht der Umweltwissenschaft ein wichtiger Meilenstein. Unser Papier soll dazu dienen, für Fließgewässer notwendige Prämissen in den Vordergrund zu rücken. Die allererste ist zu fragen, was freifließend bedeutet
(geplant ist, dass 25.000 Flusskilometer bis 2030 in einen „frei fließenden Zustand“zurückversetzt werden, Anm.).
Das gehört genauer definiert. Der Fokus sollte nicht nur auf störenden Querbauwerken wie Wehren oder Staustufen liegen, es geht auch um die Ausdehnung des Flusses in die Breite, also um die Kommunikation mit Auen oder auch mit dem Grundwasser. Zudem sollten Mindestlängen festgeschrieben sein: Wenn ich nur isoliert kleine Bereiche renaturiere, schaffe ich „Naturraum-Zoos“. Die müssen verbunden sein. Und: 25.000 Kilometer klingt viel. Aber man muss das mit der gesamten Länge der Fließgewässer in der EU in Bezug setzen: Da liegt die Bandbreite bei 600.000 bis 1,6 Millionen Kilometern. Wir reden also von einer Verbesserung im einstelligen Prozentbereich. Bei einem Straßennetz würde es gesellschaftlich für sehr viel Irritation sorgen, zu sagen: Mehr als die Hälfte ist in keinem guten Zustand, und wir verbessern nur ein paar Prozent.
Man wird also auswählen müssen, was man rettet. Ist das sozusagen eine Triage der Flusslandschaft?
Wenn wir so weiter tun würden, kommt es dazu. Das Problem ist, dass wir letztlich mit allen Entscheidungen Artenvielfalt verlieren – und damit genetische Grundlagen, die wir für eine sehr massive und schnelle Veränderung der Umwelt, wie wir sie erleben, brauchen würden. Wenn wir jetzt große Fließgewässer wie die Donau oder den Rhein aufgeben, weil sie so mannigfaltig und intensiv genutzt sind, dann können wir das nicht: weil Fließgewässer Netzwerke sind, die miteinander in Verbindung stehen. Man kann sehr zentrale Bereiche nicht einfach aus dem System herausnehmen: Einen Verteilerknoten muss ich mir auch in einem Straßennetz vorrangig anschauen, ich werde nicht bei einer Nebenstraße mit Verbesserungen beginnen. Wobei in der Biologie gerade Nebenstraßen sehr spannend sein können. Insofern hinkt der Vergleich ein wenig.
Wie vermittelt man das?
Die Kommunikation mit der Gesellschaft ist ein zentraler Punkt. Es ist sehr wichtig, alle Stakeholder mit an Bord zu nehmen. Oft gibt es den Dialog mit einer eingeschränk
ten Öffentlichkeit, und das führt natürlich zu Problemen. Warum? Weil damit einzelne Interessenslagen in den Vordergrund rücken und andere nicht in der Art und Weise berücksichtigt werden.
Wen müsste man also stärker ansprechen?
Oft wird die lokale Bevölkerung in Entscheidungsprozesse nicht eingebunden. Landwirtschaft ist häufig im Dialog, Fischerei deutlich weniger. Ich kann überregional und auf europäischer Ebene Priorisierungen setzen: Aber wir müssen vor Ort Aushandlungsprozesse schaffen, die fair sind, aber nicht nur für Einzel-, sondern auch für regionale Gesamtinteressen. Wir brauchen eine Gesamtsicht, um diese Prozesse mit Fakten zu belegen und nicht mit Sorgen und Ängsten von Menschen zu spielen. Hier braucht es Mut auf unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen. Wenn Sie mich jetzt fragen würden, was die größte Herausforderung in Österreich ist, ist das, eine sinnvolle Raumordnung zu finden, die den Flüssen ausreichend Raum gibt. Das bedeutet ja nicht Enteignungsfantasien, sondern es braucht faire Nutzungsstrategien: Nicht jeden Quadratmeter kann ich so nutzen, wie es ökonomisch auf den ersten Blick optimal ist. Mitunter erzeuge ich Kosten, wenn später Kompensationsmaßnahmen für die Umwelt deutlich teurer kommen. Wir sind noch ein gutes Stück davon entfernt, sinnvoll mit unserer Landschaft umzugehen.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass Ihre Hinweise Eingang in das EU-Gesetz finden?
Ich sehe kein zeitliches Problem, aber ich sehe das Problem der Verhandlungsstrategien und letztlich der Frage, wie stark das Gesetz dann verwässert. Die Sorge ist, dass es so viele Ausnahmeregelungen gibt, dass selbst beste Evidenz relativ wenig nutzt. Im Gesetz bekommen erneuerbare Energien Priorität – damit entsteht ein Zielkonflikt, der inhaltlich nicht existiert: Es gibt eine zusammenhängende Krise des Klimas und der Biodiversität. Wenn ich erneuerbare Energien zulasten der Biodiversität entwickle, gewinnen wir zwar in der Klimakrise etwas Zeit, um dann aber zeitverzögert größere Probleme rund um die Artenvielfalt zu bekommen. Wir müssen unseren CO2-Fußabdruck reduzieren. Aber wenn wir gleichzeitig wertvolle ökologische Flächen, Fließgewässer massiv verbauen und weltweit ein dramatischer Verlust an Wirbeltieren in Gewässerlebensräumen stattfindet, wird klar, dass jede Maßnahme klima- sowie biodiversitätsfit gestaltet sein muss.
Grüne Interessen scheinen mitunter zu konkurrieren. Einerseits ist da der Wunsch nach sauberer Energie mittels Wasserkraft, andererseits möchte man die Flüsse möglichst natürlich halten. Wie kann das zusammenpassen?
Wir haben uns für eine Studie, die knapp vor der Veröffentlichung steht, das Fließgewässernetzwerk der Donau angeschaut. Wir haben dort rund zweitausendzweihundert Barrieren wie Wehre, nicht nur Wasserkraft, die ist gar nicht so dominant. Wenn wir die nicht reduzieren, kommen wir nicht weiter. Es zeigt sich auch, dass Fischwanderhilfen enormes Potenzial haben können. Ein neues Bauwerk, selbst wenn es nur zu einer minimalen Verschlechterung führt, passt nicht in die Gesamtstrategie. Wir müssen zuerst erhalten, was noch da ist. Und das außer Frage stellen.
Wie kann es dennoch gelingen, die Bedarfe der Energiewirtschaft zu erfüllen?
Wir haben enormes Potenzial. Wenn wir die doch teilweise schon älteren Wasserkraftanlagen in Österreich technologisch erneuern, eröffnet das neue Spielräume für ökologisch sinnvolle Maßnahmen. Beim Bau müssen wir jedenfalls die Anzahl reduzieren. Auch ein Kleinwasserkraftwerk hat ökologisch doch einige negative Auswirkungen. Viele kleinere Kleinwasserkraftwerke sind also keine Lösung für unsere Probleme.
Gibt es ein Beispiel, wo die Renaturierung gut gelungen ist, das also Mut macht?
Uns macht der Traisen-Unterlauf Mut, er wurde über mehrere Kilometer ganz neu naturnah gestaltet – vorher glich das TraisenBett einem Abflusskanal. Was wir heute als Flüsse kennen, unsere Generation und unsere Kinder, ist weit weg von dem, wie ein Fluss tatsächlich ausgesehen hat. An der Traisen hat sich ein Arm gebildet, der für Fische aus der Donau in beide Richtungen passierbar ist. Es wurden Lebensräume wie flache Schotterbänke und Uferbereiche geschaffen, die für eine enorme Anzahl an Fischarten Rückzugsorte und Laichgründe bieten: Flussfische wie die Barbe oder die Nase, aber auch den Zander. Wir sehen in unserer Forschung, wie sich der Fischreichtum in der Region erhöht. Die Renaturierung des Traisen-Unterlaufes ist ein leuchtendes Beispiel. Aber es kann nicht bei einem Beispiel bleiben. Man muss den Zugang auch bei anderen Flüssen wie der Donau konsequenter wählen.
Wie nutzt all das den Menschen noch?
Wenn man zum Beispiel Schotterbänke – ein sehr wichtiges Element, das großteils in den Flüssen fehlt – aufschüttet, werden sie wieder als Naherholungsräume genutzt: etwa auch die Aufweitungen an der oberen Drau. Was mir auch Mut macht, ist der neue Biosphärenpark an der Mur, der fünf Länder einschließt und wo man wirklich größer denkt, indem man sagt: Man will große Flussabschnitte intakt halten und als Lebensraum bereitstellen. Das dient letztlich auch der Erholung – und ist außerdem eine Maßnahme, die den gesamten Wasserhaushalt wieder verbessert. Vielleicht mit Widerstand am Anfang, aber dann mit großem Mehrwert.
Wie optimistisch sind Sie persönlich, dass die Rettung unserer Flüsse gelingt?
Nachdem mir Flüsse wichtig sind, habe ich einen gewissen Zweckoptimismus: Solang Wasser in der Landschaft fließt, sehe ich die Chance, dass wir hier zur Rettung beitragen können. Die Sorge ist eher: Wie viel können wir retten? Für mich stellt sich die Frage, wie viel ich, unsere Gruppe oder unser Institut hier möglich machen können. Es geht nicht darum, dass es chancenlos ist. Chancenlos ist man dann, wenn man aufgibt.