Darf ich die Kinder umarmen?
Elizabeth Strout hat mit „Am Meer“den zartesten Lockdown-Roman geschrieben, den man sich vorstellen kann.
Es ist ein Segen, dass wir vergessen. Wir sind wieder fast unbeschwert, die Masken sind längst aus den Träumen verschwunden, vorbei die Zeit, da wir schon stutzten, wenn sich in Filmen oder Serien Menschen umarmten. Was war, ist weit weg, und das ist gut so.
Es ist aber auch notwendig, dass wir uns erinnern, nicht tagtäglich, aber hin und wieder, wenn wir etwa den neuen Roman von Elizabeth Strout in die Hand nehmen. Er beginnt in den ersten Wochen der Pandemie: Lucy, die Ich-Erzählerin, ist nicht weiter beunruhigt, aber ihr ExMann, Biologe, ahnt, was da auf sie zukommt. Er hat ein Haus in Maine gemietet. „Lass mich dich aus der Stadt rausbringen“, sagt er. Sofort. Und er erzählt ihr, dass ihr gemeinsamer Freund Jerry gestorben ist. An Corona. „Aber was ist mit Jerrys Beerdigung?“, fragt sie.
Doch da gab es schon keine Beerdigungen mehr, und das war erst der Anfang.
Elizabeth Strout erzählt also – nicht das erste Mal – von Lucy und William. Nach etlichen Jahren, in denen viel geschehen ist – er wurde von seiner Frau verlassen, ihr zweiter Mann ist an Krebs gestorben –, verbringen die beiden also den Lockdown in Maine. Gehen spazieren, schauen aufs Meer, schlafen unruhig, ärgern sich übereinander. Wird man versöhnlicher? Bleibt einmal empfundene Nähe? „Am Meer“ist auch eine unaufdringliche Geschichte über das Altwerden. Über die Liebe. Über das Elternsein. Überhaupt und in Zeiten der Pandemie.
Einmal besuchen William und Lucy ihre Kinder, man trifft sich im Freien, trägt Maske, und als es ums Abschiednehmen geht, beginnt eine der Töchter zu weinen, denn auch beim Abschied halten sie Distanz. Ich erinnere mich, wie ich in einer ähnlichen Situation mich über alle Regeln hinweggesetzt habe. Wenn ich die eigenen Kinder nicht mehr umarmen darf, dachte ich, ist alles aus. Aber keines meiner Kinder hat Asthma, und sie waren auch noch nicht erwachsen, also nicht für mich.
Danke, sagt die Trump-Wählerin
Was waren das für Zumutungen! Doch nicht nur davon handelt der neue Roman von Elizabeth Strout. Er handelt von einer Entzweiung der Gesellschaft, die damals nicht begonnen hat, aber doch deutlicher wurde. Maine ist nicht New York. William und Lucy sind nicht willkommen. Sie sollen nach Hause abhauen, ruft man ihnen entgegen, als sie im örtlichen Supermarkt mit ihrem Auto samt New Yorker Nummer vorfahren. Sie besorgen sich eine andere Nummerntafel, das ist nicht ganz legal, aber sicherer.
Hätte es damals noch eine Chance zur Versöhnung gegeben? Lucy lernt bei der Tafel für Bedürftige eine Frau kennen, sie gehen zusammen spazieren, die Clintonmit der Trump-Wählerin. Sie beobachten zwei Vögel, von denen einer dem anderen mit dem Schnabel über den Hals streicht. Lucy erzählt, dass sie manchmal Angst hat, den Verstand zu verlieren, und Charlene, dass sie einer Frau einen Schuh gestohlen hat. Einen einzelnen. Einmal sagt sie, dass sie sich nicht impfen lassen will und deshalb nicht mehr bei der Tafel arbeiten darf. „Das tut mir leid“, sagt Lucy. „Danke“, sagt Charlene. Und das ist fast ein bisschen tröstlich.