Hinter der Tapetentür
Marlen Haushofer verpflichtete ihre Leser sanft, aber bestimmt zur Stellungnahme – ihre seismografische Sprachgenauigkeit findet sich auch in den Kinderbüchern. Nun liegt ein Sammelband ihrer Werke vor.
Platz eins in der Bestenliste im Februar 2024: Marlen Haushofers gesammelte Werke, vom Claassen Verlag neu ediert. Die österreichische Autorin hat schon zu Lebzeiten manch wohlwollende Rezension und etliche Literaturpreise erhalten – kommerzielle Erfolge waren ihr nicht beschieden, auch wenn wache Rezensenten Haushofers Prosa schon in den Fünfzigerjahren gewürdigt haben. „Wir töten Stella“galt einem Hans Weigel schlicht als „perfekt“. Doch das blieben literaturkritische Einzelfälle. Während die beinah gleichaltrige Ingeborg Bachmann zur Ikone wurde, betrogen die Zeitgenossen die Haushofer durch Ignoranz um ihre Pionierleistungen. Das Gros der Kritiker rubrizierte ihre Themen im besten Fall unter „typisch weiblich“– meist wählten sie für ihre Abwertungen weitaus weniger freundliche Umschreibungen.
„Hausfrauenliteratur“waren ihre Bücher bestenfalls insofern, als Marlen Haushofer bis zu ihrem frühen Tod mit knapp 50 Jahren im Jahr 1970 tatsächlich als Hausfrau in Steyr lebte, ihre Werke am Küchentisch schreiben musste und bekannte, die Hauptfiguren ihrer Bücher seien „immer Teile von mir, sozusagen abgespaltene Persönlichkeiten, die ich recht gut kenne“. Es waren Frauen, gefangen im Kokon der gesellschaftlichen Verfassung der Jahre nach 1945 – mit all dem Ballast von „tausend Jahren“, der mitgeschleppt, aber nach Möglichkeit verdrängt wurde. In der Banalität des Alltags ahnen die Männer so wenig wie plappernde Freundinnen, welche Tapetentüren sich nächtens öffnen können. Und schon gar nicht, dass nicht mehr zurückkehrt, wer sich dorthinein verliert.
Trivialeswie komplexe seelische Vorgänge beschreibt Haushofer unverschörkelt direkt. Der in wenigen der frühen Erzählungen zu beobachtenden Vorliebe für blumige, symbolträchtige sprachliche Verpackungen der Inhalte entledigte sich Haushofer rasch. Klischees wie Außergewöhnliches wurden benannt, nicht bewertet. Herbert Eisenreich sprach von Haushofers beinharten, konsequent handelnden Zeitgenossinnen, die „das Sinnlose bei seinem Zustand … belassen“– wodurch die Texte „wenig attraktiv, aber bewundernswert“würden („Welt“, 1968).
Unkritisch wirken Haushofers Erzählerinnen und Tagebuchschreiberinnen, doch die Autorin verpflichtet ihre Leser mit der Unaufgeregtheit ihrer literarischen Protokolle sanft, aber bestimmt zur Stellungnahme. Wenige Andeutungen genügen oft, um Personen, Situationen bis auf den Grund zu durchleuchten. In wenigen Sätzen schwingt unausgesprochen mit, was die jeweilige IchErzählerin, weiß, aber verschweigt, was sie ahnt, aber gar nicht so genau wissen möchte. In einem Tagebuch verstehen sich ja viele Dinge von selbst. Und es schmerzt beim Lesen, wenn man sie alle, alle zu (er)kennen glaubt. Man hat (männliche wie weibliche)
Literaten aus geringerem Anlass zu bedeutenden Stilisten erklärt.
Auch Haushofers berühmtester Roman, „Die Wand“, liest sich wie ein scheinbar realistischer Bericht von einer Frau, die sich durch eine unsichtbare Wand von ihrer alten Welt abgetrennt findet, in der eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes alles Leben vernichtet zu haben scheint. Unter der imaginären Glaskuppel richtet sie sich ihr Leben mit der Natur und den Tieren ein, erschafft sich ihre Welt neu. Aus dieser Mythologie wird die Gestalt des Mannes, die plötzlich auftaucht, in einer blitzschnellen Aktion regelrecht herausgeschossen. Dass auch er überlebt hat, passt nicht ins Konzept. Aber er hat den Stier und den Hund getötet.
Der Rest ist weiblich. Vielleicht. Der Bericht endet, weil das Papier für die Tagebucheintragungen ausgeht. „Hör mal, da hat sich eine andre Frau als wir doch glatt eine Wand einfallen lassen, die unsichtbar sein soll!“, sagt eine der Dialogpartnerinnen in Elfriede Jelineks „Der Tod und das Mädchen V“, ein „Prinzessinnendrama“, in dem die Schriftstellerkoleginnen Sylvia (Plath) und Ingeborg (Bachmann) wiederholt eine dritte Autorin, „Marlen“, beschwören. Bachmanns Roman „Malina“erschien im Jahr nach Haushofers Tod, 1971, und es wird den aufmerksamen Lesern nicht entgangen sein, dass die Ich-Erzählerin sich durch einen „Riss in der Wand“verabschiedet. Eine Wand als Metapher war bei der Haushofer früh aufgetaucht. Im ersten Roman, „Eine Handvoll Leben“, heißt es: „Eine unsichtbare Wand hatte sich zwischen sie und alle Dinge geschoben und ließ ihre Sinne ertauben.“Hinter einer Glaswand findet sich auch die Protagonistin in „Schreckliche Treue“, abgeschirmt vom früheren Ich. Erschreckend ist nur die Angst, dieser Zustand könnte beendet werden: „Im nächsten Augenblick wird etwas auf mich zuspringen und die unsichtbare Wand zerschlagen.“
In einem Interview meinte Haushofer: Die Wand sei „eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird“, und „eine aufgerichtete Wand“müsse „nicht immer als negativ angesehen werden“. Die Idee greift Elfriede Jelinek auf und lässt in „Der Tod und das Mädchen V“sagen: „Nur Frauen beschreiben so was . . . Männer würden sich nicht aufhalten mit etwas, das man nicht sieht.“Also doch im tiefen Sinne „Frauenliteratur“, aber dank ihrer souveränen Faktur für alle Geschlechter empfehlenswert – und für alle Generationen. Eine Würdigung der Lebensleistung dieser Autorin ist nicht vollständig ohne Erwähnung der schon seinerzeit hoch gelobten Kinderbücher. Titel wie „Brav sein ist schwer“, „Schlimm sein ist auch kein Vergnügen“oder „Müssen Tiere draußen bleiben?“hat sie mit derselben Hingabe und seismografischen Sprachgenauigkeit geschrieben, die in den Leserköpfen reiche Bilder entstehen lassen.
Bilder, die sie in ihrem vielleicht anrührendsten Roman, „Himmel, der nirgendwo endet“, nutzt, um die Bitternis des Erwachsenwerdens zu beschreiben, wenn die zentralen Themen der „großen“Romane aufkeimen. Haushofer lässt uns nicht lange im Unklaren: Die wunderbare Poesie des ersten Absatzes, in dem ein Mädchen, in einem Fass liegend, den Himmel und die Wolken betrachtet, wird sogleich konterkariert: Die Kleine sitzt strafweise auf ihrem Platz, kann von dort nicht ausbüchsen. Träumend verschwimmen Erlebtes, Erhofftes, Enttäuschendes – die lebensbejahende Kindheit endet. Alles verflüchtigt sich. Hinter Tapetentüren vielleicht?