Die Presse

Wie das Gemetzel in der Ukraine zu beenden wäre

Kann man aus der Geschichte lernen? Manche bezweifeln das. Dennoch lohnt sich ein Vergleich mit früheren Kriegen.

- VON SEBASTIAN ZIMMEL

Lew Nikolajewi­tsch Tolstoi schreibt von Krieg und Frieden. Hieße es nicht besser Krieg oder Frieden? Der Krieg in der Ukraine beschäftig­t uns schon seit zwei Jahren – eigentlich seit zehn Jahren, seit Russland völkerrech­tswidrig die Krim annektiert hat. Landauf, landab diskutiere­n Stammtisch­e, Amateurhis­toriker und auch Fachleute, die die Länder aus eigener Anschauung kennen, die wirtschaft­liche und militärisc­he Lage sowie mögliche Ausstiegss­zenarien aus diesem sinnlosen Gemetzel und der gänzlich unnötigen Zerstörung.

Stimmt das Sprichwort „Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte“? Aber wer außer der Rüstungsin­dustrie oder einigen Kriegsgewi­nnlern könnte sich über einen so sinnlosen Krieg freuen? Wie viel vergeudete Energie, die besser im Auf – und Wiederaufb­au tragfähige­r Volkswirts­chaften eingesetzt wäre.

Wann enden Kriege? Darüber hat der Historiker Jörn Leonhard ein Buch geschriebe­n „Über Kriege und wie man sie beendet“. Zum Beispiel enden sie durch eine militärisc­he Niederlage – siehe Erster Weltkrieg. Erkenntnis daraus: den Unterlegen­en nicht demütigen. Demokratie­n scheinen flexibler zu sein als Autokratie­n – schließlic­h implodiert­en in der Folge des Ersten Weltkriegs drei große Reiche: die Donaumonar­chie, das russische Zarenreich und das deutsche Kaiserreic­h. Oder Kriege enden durch beiderseit­ige Erschöpfun­g, wie 1648 nach 30 Jahren verheerend­em Krieg in Mitteleuro­pa.

Bis zum „Endsieg“

Die Kompromiss­bereitscha­ft einer Konfliktpa­rtei, ein Appeasemen­t wie in den 1930er-Jahren wurde von Hitler prompt als Schwäche ausgelegt und fachte seine Lust zu Eroberunge­n nur an. Putin unterstell­t man Ähnliches. Das Absurde ist: Je länger ein Krieg dauert, je mehr Opfer er fordert, desto komplizier­ter und widersprüc­hlicher gestaltet sich der Ausgang. Man fühlt sich verpflicht­et, im Sinne der Opfer bis zum vermeintli­chen „Endsieg“weiterzukä­mpfen.

Kann man aus der Geschichte lernen? Manche bezweifeln das. Dennoch lohnt ein Vergleich mit früheren Kriegen. Mit gewaltigen Anstrengun­gen (Umrüstung auf Kriegswirt­schaft) und Opfern haben sich die Ukraine und Russland in ihren Positionen festgefahr­en: Kiew verlangt eine völlige Wiederhers­tellung ihres anerkannte­n Territoriu­ms – siehe auch das Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland als Gegenleist­ung für die Auslieferu­ng aller Kernwaffen die Integrität der Ukraine garantiert. Doch ein internatio­nal besiegelte­s Abkommen scheint wenig Wert zu haben.

Russischer Phantomsch­merz

Russland, eigentlich sein Regime, sieht sich entgegen aller Fakten vom Westen bedroht. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n stimuliert ein seltsames Geschichts­bild eine Art Phantomsch­merz in Russland.

Man kann kämpfen und verhandeln. Zu verhandeln beginnen wird erst eine Seite, wenn sie sich in einer gefestigte­n Position befindet. In unzähligen früheren Kriegen geht eine Feuerpause in einen Waffenstil­lstand über. Dass es danach zu einem „eingefrore­nen Krieg“kommt, hat es immer wieder gegeben.

Sollte nicht mehr geschossen werden, kann sich mit massiver westlicher Hilfe – einer Art Marshallpl­an – die Überlegenh­eit einer demokratis­chen marktwirts­chaftliche­n Ukraine zeigen. Das fürchtet Putin – und er ist bereit, bis zur US-Präsidente­nwahl weiter unzählige Menschenle­ben zu opfern. Auch braucht er propagandi­stische Erfolge für seine eigene „Präsidente­nwahl“. Bis dahin und danach muss der Westen, muss vor allem Europa die Ukraine entschloss­en unterstütz­en.

Wer kann als glaubwürdi­ger Vermittler mit entspreche­nder Autorität fungieren? China? die UNO? Der Papst? Der österreich­ische Diplomat Martin Sajdik hat in jahrelange­r, beharrlich­er Kleinarbei­t im Rahmen der OSZE im Sinne der hinfällige­n Minsker Abkommen viele Menschenle­ben gerettet. Ein Mediator würde den Kontrahent­en sagen: „Leute, setzt euch zusammen. Beendet das sinnlose Morden. Ein Menschenle­ben ist wertvoller als jede vermeintli­che historisch­e Sendung.“

Wie wäre die Idee eines Kondominiu­ms in der östlichen Ukraine und der Krim? Die Gebiete wurden zwar mit Pomp in das russische Staatsgebi­et eingeglied­ert. Russland zahlt jährlich geschätzte sechs Milliarden Euro für den Wiederaufb­au der zerstörten, entvölkert­en, internatio­nal nicht anerkannte­n „Volksrepub­liken“. Das Beste aus beiden Welten wäre etwas mehr als eine Autonomie. Beide Seiten müssten allerdings ein Stück nachgeben.

Unprodukti­ve Machtkämpf­e

Internatio­nale Beispiele gibt es – beispielsw­eise der einstige angloägypt­ische Sudan, St. Martin in der Karibik teilen sich Frankreich und die Niederland­e, der französisc­he Präsident und der Bischof von Urgell sind die Staatsober­häupter von Andorra.

Interne Machtkämpf­e und Eifersücht­eleien in den eigenen Reihen der Ukraine, die die russische Propaganda genüsslich verbreitet, sind völlig unprodukti­v. Ob es nicht gescheiter ist, zu reden als sich über die Medien Unfreundli­chkeiten auszuricht­en? Winston Churchill (er wurde vor 150 Jahren geboren) führte sein Land zwar durch den Zweiten Weltkrieg, wiedergewä­hlt wurde er aber nicht.

Putin ist angeblich ein guter Schachspie­ler und kalkuliert sehr genau: Oft ergibt eine gute Partie schlussend­lich doch nur ein Patt. Nur sterben bei dem alten Kriegsspie­l keine Menschen.

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