Ein Insider des Systems Orbán packt aus
Nach dem Rücktritt der Staatspräsidentin rechnet Péter Magyar, Exmann der früheren Justizministerin, mit Premier Orbán schonungslos ab.
Der Rücktritt von Staatspräsidentin Katalin Novák am Wochenende sorgt in Ungarn für ein politisches Beben, bei dem nun offenbar kein Stein auf dem anderen bleibt. Denn nur einen Tag nach der Ankündigung Nováks sorgte ein Insider des Machtapparates von Premier Viktor Orbán, Péter Magyar, für großes Aufsehen, als er gegenüber dem oppositionellen YouTubeNachrichtenkanal Partizán über die verborgenen Mechanismen des Orbán’schen Systems auspackte. Magyar ist ehemaliger Leiter des staatlichen Zentrums für Studentenkredite und früherer Ehemann von Ex-Justizministerin Judit Varga (2019 bis 2023). Zur Erinnerung: Nachdem Staatspräsidentin Novák ihren Rücktritt verkündet hatte, gab kurz darauf auch Varga bekannt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Zum Verhängnis für die Politikerinnen wurde die Begnadigung eines Mannes, der als Vizedirektor eines Kinderheims seinem Chef jahrelang Beihilfe zum Kindesmissbrauch geleistet hatte und deshalb zu einer Haftstrafe von über drei Jahren verurteilt worden war.
„Es kann nicht so weitergehen“
Während Novák die Begnadigung initiierte, wurde sie von Varga als Justizministerin gegengezeichnet. Besonders schmerzlich für die Regierungspartei Fidesz: Varga war eigentlich als ihre Spitzenkandidatin für die Europawahl im Juni vorgesehen. Doch zurück zu ihrem Exmann Péter Magyar, der in dem Interview mit Partizán mit dem System Orbán schonungslos abrechnete. Auf die Frage des Interviewers, warum er das tue, sagte Magyar, dass die Begnadigungsaffäre bei ihm, der innerhalb des Orbán’schen Machtapparates schon immer ein „kritischer Geist“gewesen sei, das Fass zum Überlaufen gebracht habe. „Es kann so nicht weitergehen“, betonte er.
Laut Magyar führt die Affäre eindringlich vor Augen, wie das System Orbán funktioniert. Er kam auf die Propagandamaschinerie der Regierung zu sprechen, die vom mächtigen Kabinettschef Orbáns, Antal Rogán, geleitet wird. Rogán sei der „Kardinal Richelieu“Orbáns, der als graue Eminenz unzählige Fäden in Ungarn ziehe. Rogán unterstehen die Geheimdienste und er leite die gleichgeschalteten Staatsmedien. Wie Magyar sagte, gibt es keine Nachricht der staatlichen Nachrichtenagentur MTI, die nicht von Rogáns „Kommunikationswerken“überprüft wird.
Der Dunstkreis der Familie Orbán
Die Propagandamaschine der Regierung sei mit Novák entwürdigend umgegangen. Er sei dieser Praxis überdrüssig und sehne eine „neue, junge Generation“von FideszPolitikern herbei, die aufrichtig für ihr Land arbeiten und sich nicht in undurchsichtigen Machenschaften verstricken.
Mit Novák und Varga sind laut Magyar nun aber ausgerechnet zwei Vertreterinnen dieser jungen, integren Politikerkaste aus der ungarischen Politik ausgeschieden. Sie hätten zu dem engen Zirkel von Personen gehört, denen gute Aussichten auf eine Nachfolge Orbáns nachgesagt wurde. Als potenzielle Erben Orbáns kommen jetzt nur noch der Minister des Ministerpräsidentenamtes, Gergely Gulyás, und Außenminister Péter Szijjártó infrage, so Magyar.
Er betonte auch, dass er in keinem Land leben wolle, das praktisch eine „familiäre Aktiengesellschaft“sei. Damit bezog er sich eindeutig auf die Familie Orbán und deren Dunstkreis. Das „halbe Land“befinde sich in den Händen einiger weniger Familien und Unternehmer. Er gab auch Einblick, wie staatliche Aufträge an regierungsnahe Unternehmen vergeben werden. So sei er früher als Leiter der Studentenkredit-Behörde „von oben“angewiesen worden, eine ganz bestimmte PR-Firma mit der Öffentlichkeitsarbeit zu beauftragen. Diese Firma, die ihre Arbeit mehr schlecht als recht verrichtet habe, habe bisweilen das Sechsfache des Marktpreises verlangt.
Unterdessen wird in den ungarischen Medien gemutmaßt, wer tatsächlich hinter der umstrittenen Begnadigung steht. Dabei wurde vom Investigativportal Direkt36 zuletzt der Name Zoltán Balog genannt, früher Minister für Humanressourcen unter Orbán und heute ein Bischof der reformierten Kirche in Ungarn. Auf sein Zuflüstern hin soll Katalin Novák die Begnadigung ausgesprochen haben.