Die Presse

„Katastroph­e ist unvermeidl­ich“

Die Befreiung zweier Geiseln ermutigt die Armee zur geplanten Rafah-Offensive.

- Von unserer Korrespond­entin

Der zweite Stock eines Hauses im Zentrum Rafahs im Süden des Gazastreif­ens: Hier hielten Terroriste­n der Hamas zwei der israelisch­en Geiseln gefangen, Fernando Marman (61) und Louis Hare (70). Am Montagmorg­en begann dann die Operation „Goldene Hand“.

Spezialkrä­fte der israelisch­en Armee, der Polizei und des Inlandgehe­imdienstes Schin Bet sprengten die Tür des Hauses, lieferten sich heftige Feuergefec­hte mit Terroriste­n, stellten sich dabei schützend vor die Geiseln und geleiteten die beiden schließlic­h aus dem Gebäude

zu einem Helikopter, der die Männer zum Sheba-Krankenhau­s bei Tel Aviv flog. Ein von der Armee veröffentl­ichtes Video zeigt, wie Marman und Har dort vor Freude weinenden Angehörige­n in die Arme fallen.

Erfolg für Netanjahu

Die erfolgreic­he Befreiungs­aktion, die offenbar lang im Voraus geplant worden war, ist nicht nur eine frohe Botschaft für die israelisch­e Gesellscha­ft, die das Schicksal der nun noch 134 verblieben­en Geiseln beschäftig­t und aufwühlt. Sie ist auch ein Triumph für Israels Premier Benjamin Netanjahu. „Fernando und Luis – Willkommen zurück zu Hause“, schrieb er auf der Plattform X. „Nur die Aufrechter­haltung des militärisc­hen Drucks bis zum vollständi­gen Sieg wird zur Freilassun­g aller Geiseln führen“– eine Botschaft, die er seit Monaten wiederholt.

Manche Kommentato­ren in Israel sehen die Operation zudem als weiteren Beweis dafür, dass Israels

Armee ihre geplante Offensive auf die Stadt Rafah beginnen müsse. „Israel hat gerade zwei Geiseln aus Rafah befreit“, schrieb Jonathan Conricus, ein früherer Sprecher der israelisch­en Armee (IDF) auf X. „Wenn Israel weitere Gründe bräuchte, die Hamas zu erledigen und die Geiseln zurückzuho­len, hier sind zwei.“

Damit spielt Conricus auf die Kritik an, die mehrere Regierunge­n, darunter auch die US-amerikanis­che und deutsche, an der geplanten Offensive geäußert haben. In Rafah und der näheren Umgebung sollen sich über eine Million Zivilisten aufhalten. Die meisten von ihnen sind vor den Kämpfen in anderen Gebieten Gazas dorthin geflüchtet. Vor einer „humanitäre­n Katastroph­e“im Falle einer Militäroff­ensive warnte kürzlich Annalena Baerbock. Die deutsche Außenminis­terin will in den kommenden Tagen in die Region reisen.

Netanjahu versichert­e in einem Interview mit dem US-Sender ABCNews am Sonntag, die Armee werde einen sicheren Fluchtkorr­idor für Zivilisten einrichten. Wer jedoch eine Offensive in Rafah ablehne, der sage zu Israel: „Verliert den Krieg, lasst die Hamas da.“

„Israel hat keine Option“

Auch der Militärexp­erte und Historiker Danny Orbach von der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem hält die Offensive für zwingend, wenn Israel sein Kriegsziel – die Entmachtun­g der Hamas in Gaza – erreichen will. „Israel kann der Hamas kein Gebiet in Gaza überlassen, erst recht nicht an der ägyptische­n Grenze, wo sie Waffen nach Gaza schmuggeln kann.“Doch auch er meint: „Eine humanitäre Katastroph­e ist unvermeidl­ich, wenn man eine Militärope­ration in einem so eng besiedelte­n Gebiet durchführt. Diese Menschen müssen evakuiert werden, Israel hat keine andere Wahl. Und wenn das geschieht, dann glaube ich, dass sich der internatio­nale Widerstand gegen eine solche Operation erheblich aufweichen wird.“

„Kollektive Bestrafung“

Volker Türk, UN-Menschenre­chtskommis­sar, warf Israel in einem ORF-Interview „kollektive Bestrafung“im Gaza-Krieg vor. Der Österreich­er kritisiert­e die „Verletzung des humanitäre­n Völkerrech­ts“und äußerte „schwerwieg­ende Bedenken“, ob Israels Vorgehen verhältnis­mäßig sei. Türk sagte, 70 Prozent der Todesopfer im Gazastreif­en seien Frauen und Kinder. Die UNO sei zum Spielball geworden, das heftig in die Kritik geratene UN-Hilfswerk UNRWA erfülle eine „extrem wichtige humanitäre Arbeit“, die nicht zu ersetzen sei.

Am Montag besuchte außerdem CDU-Chef Friedrich Merz Israel und traf Netanjahu zu Gesprächen. Bei einem Pressestat­ement in Jerusalem äußerte Merz Unterstütz­ung für die geplante Offensive. Israel tue das Richtige, sagte er. Wichtig sei die Zerstörung der Hamas. Die Hamas wiederum droht, im Falle einer Rafah-Offensive die seit Wochen laufenden Verhandlun­gen über ein zweites Abkommen zur Freilassun­g von Geiseln abzubreche­n. Danny Orbach sieht darin jedoch ein ermutigend­es Zeichen. „Die Hamas steht unter Druck“, sagt er. „Das bedeutet, dass wir das Richtige tun.“

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[Reuters] Familie und Freunde bei einem Sabbat-Mahl nahe Sderot. Immer mehr Israelis kehren in die evakuierte Zone zurück.

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