„Österreich denkt wenig über Strategie nach“
Politologe Martin Senn erklärt, warum die heimische Sicherheitspolitik ein Schattendasein fristet und was Staaten wie die Schweiz besser machen.
Die türkis-grüne Regierung ist säumig. Bis Jahresende wollte sie Österreichs neue Sicherheitsstrategie vorlegen. Doch aufgrund interner Differenzen zwischen den Ministerien verzögert sich das Vorhaben, die Verhandlungen dauern an. Dabei gilt die derzeit noch gültige Strategie aus dem Jahr 2013 als verstaubt, Russland wird darin ein „wesentlicher Partner“genannt. China kommt in dem Papier gar nicht vor.
Doch auch im europäischen Vergleich ist Österreichs Sicherheitsstrategie schlecht gealtert. Der Politologe Martin Senn von der Universität Innsbruck hat in seinem Beitrag für das „Risikobild 2024“des Bundesheers aufgezeigt: Unter 34 kleineren europäischen Ländern gibt es nur vier Länder, deren Sicherheitsstrategie gleich alt oder älter ist als jene Österreichs – Portugal, Georgien, Nordmazedonien und Aserbaidschan.
Die Presse: Herr Senn, woher rührt die heimische Untätigkeit bei der Sicherheitsstrategie?
Martin Senn: Spätestens ab Mitte der Nullerjahre ist man in Österreich eher davon ausgegangen, dass es in Europa keine gewaltsamen Konflikte mehr geben wird. Außerdem sei Österreich EU-Mitglied sowie von NatoStaaten und der Schweiz umgeben. Daher müsse man sich sicherheitspolitisch keine großen Gedanken machen.
Gibt es abgesehen von dieser damaligen Sicht aber auch strukturelle Gründe?
Ja. Innerstaatlich gibt es keinen zentralen Ort der Strategieentwicklung. Es gibt in den einzelnen Ministerien zwar Abteilungen, die sich damit beschäftigen, aber keine zentrale Stelle dafür.
Wie ist es zu dieser Fragmentierung gekommen?
Es gab wenig politisches Leadership in der Strategieentwicklung. Vor allem aber mangelt es an einem Prozess, der eine gesamtstaatliche Strategieentwicklung für die Außenpolitik festschreibt. In der Schweiz etwa läuft das anders.
Inwiefern?
In der Schweiz muss in regelmäßigen Abständen eine gesamtstaatliche außenpolitische Strategie entwickelt werden, aus der sich dann die einzelnen Teilstrategien der Ministerien ableiten. Dieser Prozess geht also von oben nach unten und ist nicht fragmentiert wie in Österreich.
Wäre so ein Prozess auch für Österreich sinnvoll?
Sinnvoll wäre es schon. Die Strategieentwicklung sollte vor allem keine Eintagsfliege sein. Es wäre wichtig, den Prozess der Strategieentwicklung in Österreich zu verstetigen. Dass man sich regelmäßig und nicht nur anlassbezogen Gedanken macht: Was sind die Interessen des Staats? Welche Risiken und Möglichkeiten gibt es in seinem Umfeld? Welche Ressourcen braucht es für die Außenpolitik?
Wozu braucht ein kleiner Staat wie Österreich eine Sicherheitsstrategie?
Oft wird argumentiert, dass nur große Staaten eine solche Strategie benötigen, weil nur sie international wirklich etwas beeinflussen können. Ich würde das Argument umdrehen: Gerade kleinere Staaten brauchen solche Strategien, weil sie weniger Ressourcen
haben und verwundbarer sind. Die Strategieentwicklung sollte daher gerade für kleinere Staaten oberste Priorität haben. Und man sieht ja auch, dass sie tatsächlich sehr aktiv bei der Erstellung solcher Strategien sind.
Ist in Österreich die Strategiekultur ausreichend ausgeprägt?
Wir haben uns sicher zu wenig Gedanken über Strategie und Strategieentwicklung gemacht. Das wird auch an heimischen Hochschulen nur am Rande oder gar nicht unterrichtet. Aber es ist nicht so, dass das nur in Österreich verabsäumt wurde, sondern etwa auch an deutschen Hochschulen.
Was halten Sie von der derzeitigen Arbeit an der neuen Sicherheitsstrategie?
Die Zeit des Vorwahlkampfs ist für die Strategieentwicklung eigentlich eher suboptimal, und auch der Zeitrahmen ist sehr ambitioniert. Zudem wird die Bevölkerung überhaupt nicht in den Prozess eingebunden, wie es etwa in Deutschland der Fall war. Ich finde es aber auch problematisch, dass der Fokus der Strategieentwicklung derzeit so stark auf dem Thema Sicherheit liegt.
Warum?
Man sollte die Strategieentwicklung breiter denken und anlegen, eben in Richtung einer außenpolitischen Gesamtstrategie, die mehrere Bereiche abdeckt und abstimmt als lediglich die Sicherheitspolitik. Vor allem aber sollte der Strategieprozess verstetigt werden.