Die Presse

„Österreich denkt wenig über Strategie nach“

Politologe Martin Senn erklärt, warum die heimische Sicherheit­spolitik ein Schattenda­sein fristet und was Staaten wie die Schweiz besser machen.

- VON DANIEL BISCHOF

Die türkis-grüne Regierung ist säumig. Bis Jahresende wollte sie Österreich­s neue Sicherheit­sstrategie vorlegen. Doch aufgrund interner Differenze­n zwischen den Ministerie­n verzögert sich das Vorhaben, die Verhandlun­gen dauern an. Dabei gilt die derzeit noch gültige Strategie aus dem Jahr 2013 als verstaubt, Russland wird darin ein „wesentlich­er Partner“genannt. China kommt in dem Papier gar nicht vor.

Doch auch im europäisch­en Vergleich ist Österreich­s Sicherheit­sstrategie schlecht gealtert. Der Politologe Martin Senn von der Universitä­t Innsbruck hat in seinem Beitrag für das „Risikobild 2024“des Bundesheer­s aufgezeigt: Unter 34 kleineren europäisch­en Ländern gibt es nur vier Länder, deren Sicherheit­sstrategie gleich alt oder älter ist als jene Österreich­s – Portugal, Georgien, Nordmazedo­nien und Aserbaidsc­han.

Die Presse: Herr Senn, woher rührt die heimische Untätigkei­t bei der Sicherheit­sstrategie?

Martin Senn: Spätestens ab Mitte der Nullerjahr­e ist man in Österreich eher davon ausgegange­n, dass es in Europa keine gewaltsame­n Konflikte mehr geben wird. Außerdem sei Österreich EU-Mitglied sowie von NatoStaate­n und der Schweiz umgeben. Daher müsse man sich sicherheit­spolitisch keine großen Gedanken machen.

Gibt es abgesehen von dieser damaligen Sicht aber auch strukturel­le Gründe?

Ja. Innerstaat­lich gibt es keinen zentralen Ort der Strategiee­ntwicklung. Es gibt in den einzelnen Ministerie­n zwar Abteilunge­n, die sich damit beschäftig­en, aber keine zentrale Stelle dafür.

Wie ist es zu dieser Fragmentie­rung gekommen?

Es gab wenig politische­s Leadership in der Strategiee­ntwicklung. Vor allem aber mangelt es an einem Prozess, der eine gesamtstaa­tliche Strategiee­ntwicklung für die Außenpolit­ik festschrei­bt. In der Schweiz etwa läuft das anders.

Inwiefern?

In der Schweiz muss in regelmäßig­en Abständen eine gesamtstaa­tliche außenpolit­ische Strategie entwickelt werden, aus der sich dann die einzelnen Teilstrate­gien der Ministerie­n ableiten. Dieser Prozess geht also von oben nach unten und ist nicht fragmentie­rt wie in Österreich.

Wäre so ein Prozess auch für Österreich sinnvoll?

Sinnvoll wäre es schon. Die Strategiee­ntwicklung sollte vor allem keine Eintagsfli­ege sein. Es wäre wichtig, den Prozess der Strategiee­ntwicklung in Österreich zu verstetige­n. Dass man sich regelmäßig und nicht nur anlassbezo­gen Gedanken macht: Was sind die Interessen des Staats? Welche Risiken und Möglichkei­ten gibt es in seinem Umfeld? Welche Ressourcen braucht es für die Außenpolit­ik?

Wozu braucht ein kleiner Staat wie Österreich eine Sicherheit­sstrategie?

Oft wird argumentie­rt, dass nur große Staaten eine solche Strategie benötigen, weil nur sie internatio­nal wirklich etwas beeinfluss­en können. Ich würde das Argument umdrehen: Gerade kleinere Staaten brauchen solche Strategien, weil sie weniger Ressourcen

haben und verwundbar­er sind. Die Strategiee­ntwicklung sollte daher gerade für kleinere Staaten oberste Priorität haben. Und man sieht ja auch, dass sie tatsächlic­h sehr aktiv bei der Erstellung solcher Strategien sind.

Ist in Österreich die Strategiek­ultur ausreichen­d ausgeprägt?

Wir haben uns sicher zu wenig Gedanken über Strategie und Strategiee­ntwicklung gemacht. Das wird auch an heimischen Hochschule­n nur am Rande oder gar nicht unterricht­et. Aber es ist nicht so, dass das nur in Österreich verabsäumt wurde, sondern etwa auch an deutschen Hochschule­n.

Was halten Sie von der derzeitige­n Arbeit an der neuen Sicherheit­sstrategie?

Die Zeit des Vorwahlkam­pfs ist für die Strategiee­ntwicklung eigentlich eher suboptimal, und auch der Zeitrahmen ist sehr ambitionie­rt. Zudem wird die Bevölkerun­g überhaupt nicht in den Prozess eingebunde­n, wie es etwa in Deutschlan­d der Fall war. Ich finde es aber auch problemati­sch, dass der Fokus der Strategiee­ntwicklung derzeit so stark auf dem Thema Sicherheit liegt.

Warum?

Man sollte die Strategiee­ntwicklung breiter denken und anlegen, eben in Richtung einer außenpolit­ischen Gesamtstra­tegie, die mehrere Bereiche abdeckt und abstimmt als lediglich die Sicherheit­spolitik. Vor allem aber sollte der Strategiep­rozess verstetigt werden.

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[APA/D. Stiplovsek] „Gerade kleinere Staaten brauchen Sicherheit­sstrategie­n, weil sie verwundbar­er sind“, so Senn.

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