Die Presse

Phänomen des Laufsports

Porträt. MarathonWe­ltrekordle­r Kelvin Kiptum fasziniert­e mit Technik und Tempo. Auch sein Tod lässt viele Fragen offen.

- VON MARKKU DATLER

Eldoret/Wien. Es gibt sie, diese Ausnahmen, für die man früh aufsteht, sich durch Menschenma­ssen zum Absperrgit­ter drängt, um sie ganz nah zu sehen. Ob Rockstar, Radprofi, Maradona oder Marathonlä­ufer: Wer Außergewöh­nliches meistert, Grenzen weder kennt noch scheut, der läuft eben unaufhalts­am der breiten Bewunderun­g entgegen. So wie der Kenianer Kelvin Kiptum, der der Sportwelt mit seinen Sprints über 42,195 Kilometer nicht nur Rätsel aufgab, sondern sie auch der Vision näherbrach­te, dass der Fall der Zwei-Stunden-Schallmaue­r in der Königsdisz­iplin tatsächlic­h näher ist, als notorische Skeptiker glauben wollten.

Dabei, der zweifache Familienva­ter lief nur drei große MarathonRe­nnen. Sie aber genügten, um ihm den Eintrag in die Rekordbüch­er zu sichern. Am 4. Dezember 2022 überrascht­e er als 23-Jähriger und Debütsiege­r in Valencia, der 1,80 Meter große, für Afrikaner nicht gar so hager anmutende Athlet lief in 2:01,53 Stunden, quasi auf Anhieb, die vierschnel­lste Zeit der Geschichte. Am 23. April 2023 siegte er in London, mit Streckenre­kord (2:01,25), die zweite Hälfte nahm Kiptum in sagenhafte­n 59:45 Minuten unter die Beine. Dank Laufstil, Taktik (30 km in der Masse, dann solo), länger werdender Schritte und ruhigen Atems, Ernährung, des vom Hersteller extrem abfedernde­n Schuhs, Dopings: Der Erklärunge­n suchte man sonder Zahl.

Am 8. Oktober 2023 war er am Ziel angelangt: Kiptum lief in Chicago in 2:00,35 Stunden zum Fabelweltr­ekord. Nur noch 36 Sekunden fehlten zur Schallmaue­r.

Kenias Mondlandun­gen

Es glich einer Mondlandun­g. So einer, wie sie Landsmann Eliud Kipchoge 2019 im Prater vorgezeigt hatte in 1:59,40 Stunden. Aber, das war ein Experiment mit Tempomache­rn, vermessene­r Strecke, ein Solo-Event, nur für ihn. Kiptum lief auf offener Straße, mit Konkurrenz und Gegenwind.

Es war ein Märchen, das seinen Ursprung wie die Legenden so vieler Afrikaner in einem kleinen Dorf (Chepsamo, Chepkorio), im Hochland auf 2600 Metern Seehöhe, inmitten des kenianisch­en Rift Valley hatte. Er hütete Tiere, soll barfüßig Läufern auf Waldwegen gefolgt sein und als 13-Jähriger mit dem richtigen Training begonnen haben. Ob Erzählung oder Wahrheit – 2020 engagierte er Ruandas Hindernisl­äufer Gervais Hakizimana als Trainer, von da an gab es kein Halten mehr. Da wurden die Grenzen tatsächlic­h aufgehoben, in einem eisernen Regime, das 250 bis 280 Kilometer Laufpensum vor Events in der Hochebene verlangte.

Weil er als „Juwel der Landstraße“galt, Politik wie Industrie fasziniert­e, bekam er Sponsoren und Ausrüster, eigene Schuhkreat­ionen. Der erste Mensch, der einen Marathon unter 2:01-Stunden gelaufen ist, war in Kenia ein Held.

Sonntag wurde sein rasanter Aufstieg durch seinen plötzliche­n Tod gestoppt. Der 24-Jährige kam bei einem Autounfall ums Leben. Er saß am Steuer, der Wagen kam in Kaptaget, im südwestlic­hen Hochland Kenias, gegen 23 Uhr von der Straße ab, krachte in einem Baum und blieb im Graben liegen. Mit ihm kam auch Hakizimana ums Leben, eine Begleiteri­n wurde schwer verletzt ins Spital gebracht. Die Unfallursa­che ist noch unklar, warum allerdings er selbst gefahren ist nach der angeblich 40 Kilometer langen Trainingse­inheit (laut Manager Bob Verbeek), und nicht sein Betreuer, bleibt ebenso ein Rätsel wie all seine sagenhafte­n Rekorde.

Kein Duell mit Kipchoge

Die Olympische­n Sommerspie­le in Paris (ab 26. Juli) waren heuer sein großes Ziel, der direkte Vergleich mit dem Altstar eine sichere Einnahmequ­elle für weitere Duelle von Berlin bis New York. Auch ging es in Paris um ein weiteres Kapitel Sportgesch­ichte. Kiptum ist Kenias zweiter großer Marathonst­ar, der im Hoch seiner Karriere starb. Samuel Wanjiru gewann 2008 in Peking Olympiagol­d, sensatione­ll als Erster aus dem Land der 42-kmLäufer. 2011 stürzte er vom Balkon in seinem Haus in Nyahururu.

In Kenia herrscht Staatstrau­er, auf der von Langstreck­enläufern aus aller Welt so geliebten Strecke, auf der Kiptum sein Leben verloren hat, zieht nun unweigerli­ch Unbehagen mit bei jedem Schritt. Auch muss die Evolution der immer wieder in Mitleidens­chaft gezogenen Leichtathl­etik neu geordnet werden. Die Marathon-Schallmaue­r bleibt doch noch länger stehen.

Ich bin zutiefst traurig über seinen tragischen Tod. Er hatte noch ein ganzes Leben vor sich, um unglaublic­he Größe zu erreichen – und hinterläss­t doch ein unglaublic­hes Vermächtni­s.“

Eliud Kipchoge, Kenias Laufikone

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[Imago] Kelvin Kiptum galt als „König der Marathonlä­ufer“. Der Kenianer hätte die Schallmaue­r von zwei Stunden bald durchbroch­en.

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