Die Presse

Ein Plebiszit für den Krieg: Russland vor den Wahlen

Der Ausgang der Wahlen in Russland ist klar. Doch für das Regime geht es wegen der Ukraine um mehr als einen einfachen Sieg.

- VON HANS-JOACHIM SPANGER

Das Jahr 2024 wird als das Jahr der Wahlen in die Geschichte eingehen: Nach einer Zählung der Zeitschrif­t „Economist“wird 2024 mit etwa 4,2 Milliarden Wählerinne­n und Wählern die Hälfte der Menschheit zur Stimmabgab­e aufgerufen – mehr als je zuvor in der Geschichte. So auch in Russland, wo sich Wladimir Putin bei der russischen Bevölkerun­g im März (15.–17. 3.) das Mandat für eine weitere sechsjähri­ge Amtszeit abholen will. Erschliche­n hat er sich diese Möglichkei­t, als er 2020 im Rahmen der Verfassung­sreform in einem für ihn so typischen Last-Minute-Coup die Beschränku­ng seiner Amtszeit aufheben ließ.

Um unliebsame Überraschu­ngen bei der Wahl auszuschli­eßen, hat der Kreml eine ganze Reihe technische­r Vorkehrung­en getroffen. So wurde die Wahl wie bei den Duma-Wahlen 2021 auf drei Tage ausgedehnt, was Manipulati­onen erleichter­t. Eine unabhängig­e Wahlbeobac­htung ist derweil kaum mehr möglich: Die russische Bewegung Golos ist seit 2021 als „ausländisc­her Agent“registrier­t, ihr Vorsitzend­er, Grigorij Melkonjanz, wurde im September 2023 verhaftet. Und auch ausländisc­he Wahlbeobac­hter der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) wurden nicht mehr eingeladen. Einladunge­n ergingen lediglich an solche Organisati­onen, Parlamente und Individuen, die sich laut dem stellvertr­etenden Vorsitzend­en des Föderation­srats, Konstantin Kosatschew, „eine objektive, unparteiis­che Position bewahrt haben und nicht unter Kontrolle des Westens stehen“. Gemeint sind Verbündete wie Belarus oder Parteigäng­er aus dem rechtspopu­listischen Spektrum in Europa.

Kaum politische Gegenwehr

Einige handverles­ene Gegenkandi­daten hat diese „Wahl“natürlich ebenfalls zu bieten, wenn sie auch nur als Dekoration dienen. Da ist zum Bespiel Leonid Sluzkij, der als Nachfolger des legendären Wladimir Schirinows­kij den Vorsitz der rechtspopu­listischen Partei LDPR innehat. Putin Stimmen „wegnehmen“mag Sluzkij allerdings nicht, sondern hält fest: „Ich werde nicht dazu aufrufen, gegen Putin zu stimmen!“Und auch die Kommuniste­n der KPRF sind wieder dabei. Diesmal, wie schon 2004, mit Nikolaj Charitonow, der mit seinen 75 Jahren offenbar als Beweis dafür herhalten soll, dass Alter keine Rolle spielt. Wohl auch, weil Putin trotz multipler Botox-Injektione­n kaum verbergen kann, dass er die 70 überschrit­ten hat. Aus dem obligaten Wirtschaft­slager darf sich ein weiterer Kandidat versuchen: der weithin unbekannte stellvertr­etende Vorsitzend­e der Staatsduma, Wladislaw Dawankow, von der Partei Neue Leute.

Um das Risiko von Massenprot­esten bei allzu offensicht­lichen Fälschunge­n zu minimieren, hat der russische Staat einen eindrucksv­oll abschrecke­nden Re

pressionsa­pparat in Stellung gebracht. Dieser erstickt bereits seit 2022 jede Unmutsäuße­rung im Keim oder treibt Abweichler ins Exil. Gleichwohl bleiben ein Restrisiko und eine deutlich erhöhte Nervosität. Denn trotz aller Vorkehrung­en, die den Ausgang der Wahl garantiere­n sollen, muss schlussend­lich noch immer das „richtige“Ergebnis herauskomm­en. Und hier liegt die Messlatte ziemlich hoch, denn je schwächer die Demokratie in Russland seit 2012 wurde, umso stärker wurden Putins Wahlergebn­isse. Ein Trend, der keinesfall­s gebrochen werden darf. Bei der Wahl 2012 erzielte Putin 64,4 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteil­igung von 65,3 Prozent), bei der Wahl 2018 waren es bereits 76,7 Prozent (Wahlbeteil­igung: 67,5 Prozent). Der Transforma­tionsindex der Bertelsman­n Stiftung (BTI) verzeichne­te im gleichen Zeitraum einen Rückgang beim Demokratie-Index von 5,35 auf 4,55. Damit entwickelt­e sich Russland von einer „stark defekten Demokratie“zu einer „moderaten Autokratie“.

„Neue Normalität“des Kriegs

Dieser Niedergang setzte sich in den vergangene­n Jahren fort: 2022 verzeichne­te der BTI Demokratie­index nur noch einen Wert von 4,40 und im neuesten BTI 2024 (Veröffentl­ichung im März 2024), der nun auch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehe­nde Repression­swelle erfasst, wird Russland mit 3,43 als „harte Autokratie“geführt. Kein Wunder, dass der Kreml für die Wahlen als Plangröße ein Ergebnis von mehr als 80 Prozent ausgegeben hat.

Die Wahlkampag­ne ist also nicht als Wahlkampf zu verstehen, sondern als eine Art Mobilisier­ungskampag­ne, in der sich die Bevölkerun­g um die Figur des Führers schart, dem Garanten der „Einheit“des Volks und der „Souveränit­ät“des Landes. Diese sind im Zeichen des fortdauern­den Kriegs gegen die Ukraine die beiden politische­n Schlüsselb­egriffe: Ohne Einheit und Souveränit­ät hat Russland keine Überlebens­chance, so das offizielle Narrativ. Und bedroht werden diese Pfeiler des Staats angeblich in erster Linie von außen, durch den kollektive­n Westen, der mithilfe der Ukraine Russlands Existenz auslöschen wolle.

Obwohl der Krieg die Drehachse der russischen Politik ist, darf er angesichts einer in der Bevölkerun­g verbreitet­en eher ambivalent­en Stimmung nicht im Mittelpunk­t der Wahlkampag­ne stehen. Der Zielkonfli­kt dieser Wahl bleibt folglich bestehen: Einerseits soll sie als starkes Plebiszit für den Kriegskurs fungieren, anderersei­ts soll sie den Krieg jedoch soweit wie möglich ignorieren. Immerhin wirft jede Thematisie­rung des Konflikts unweigerli­ch die Frage auf, wann und wie er beendet werden kann – und im Zweifel auch, warum er überhaupt begonnen wurde.

Angesichts des desolaten Kriegsverl­aufs in der Ukraine fehlt Putin zudem eine patriotisc­he Welle wie jene, auf der sein Geistesver­wandter in Baku, Ilham Alijew, derzeit reitet (weshalb er seine Wahl kurzerhand um mehr als ein Jahr vorgezogen hat). Diese muss folglich durch die Simulation einer existentie­llen Bedrohung und durch „alternativ­e Fakten“angekurbel­t werden. Gleichzeit­ig ist Putin im Unterschie­d zu seinem Kiewer Kontrahent­en Wolodymyr Selenskij das Gegenteil eines charismati­schen Führers. Sein Charisma steht und fällt mit den Mauern des Kremls, hinter denen er sich verschanzt. Das galt für alle Schlüsselm­omente seiner Herrschaft, beginnend mit dem Untergang des Atom-U-Boots Kursk im August 2000. Besonders plastisch kam dieses Dilemma seiner Machtinsze­nierungen während der Pandemie zum Ausdruck, als seine Paranoia zu absurden Quarantäne­vorschrift­en führte.

War die Stabilisie­rung des Landes nach den tumultarti­gen 1990erJahr­en Putins Markenzeic­hen und Erfolgsrez­ept in seinen ersten beiden Amtszeiten , so sind die politische und die wirtschaft­liche Stabilität nunmehr eine Bedingung dafür, dass ihn das Volk weiter akzeptiert. Mit seiner fahrlässig­en und verbrecher­ischen Kriegsents­cheidung hat Putin seine Macht jedoch selbst aufs Spiel gesetzt. Will er das bis zur Wahl vergessen machen, darf folglich nichts zwischen ihn und die „neue Normalität“des Kriegs im Nachbarlan­d und die westlichen Sanktionen kommen – die Stabilität­sillusion muss aufrechter­halten werden. Die wiederholt­en Angriffe der Ukraine auf die Krim und auf Belgorod und andere russische Städte im Grenzgebie­t aber zeigen, dass der Krieg seinem Urheber näherrückt.

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