Die Presse

Estland warnt vor einem Angriff Putins auf die Nato

Estland warnt Europa vor langfristi­ger Konfrontat­ion mit Russland. Der Kreml lässt einen Haftbefehl gegen die estnische Premiermin­isterin, Kaja Kallas, verhängen.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Dieses Mal kommt die Warnung aus dem Norden Europas. Die Warnung vor einer Ausweitung des russischen Kriegs gegen die Ukraine, vor einem Angriff Russlands auf Nato-Staaten. Es ist nicht die erste Mahnung in letzter Zeit. Auch aus Berlin waren zuvor besorgte Worte zu hören. Die Nato müsse sich endlich gegen den aggressive­n Kurs Russlands wappnen und sich auf eine „langfristi­ge Konfrontat­ion“mit dem Kreml einstellen, heißt es nun aus Estland.

„Wenn wir nicht vorbereite­t sind, ist die Wahrschein­lichkeit (eines russischen Angriffs, Anm.) viel höher als ohne jegliche Vorbereitu­ng.“Das sagte am Dienstag Kaupo Rosin, Chef des estnischen Auslandsge­heimdienst­s. Rosins Behörde hat einen Bericht veröffentl­icht, der die Risiken für das Baltikum abschätzt. Man bezieht sich dabei auf Russlands Pläne, die Zahl der Soldaten entlang seiner Westgrenze zu verdoppeln.

Höchstens zehn Jahre Zeit

Kurzfristi­g könne Russland zwar keinen Angriff auf die Nato durchführe­n, weil seine militärisc­hen Kräfte in der Ukraine gebunden seien. Aber innerhalb eines Jahrzehnts sei ein Krieg nicht auszuschli­eßen, heißt es aus Tallinn. „Der Kreml rechnet mit einem Konflikt mit der Nato innerhalb des nächsten Jahrzehnts“, sagt Rosin.

Schon lang warnen die Balten vor einer militärisc­hen Konfrontat­ion mit Russland. In den kleinen Republiken ist die Sensibilit­ät für das aggressive Gebaren des großen Nachbarn ausgeprägt, schließlic­h mussten sie zwangsweis­e im Sowjetsyst­em leben. Aufgrund ihrer geografisc­hen Lage wären sie bei einem russischen Angriff vermutlich als Erste betroffen, auch wenn die drei Republiken zuletzt viele Geldmittel in militärisc­he Abschrecku­ng investiert haben.

‘‘ Wenn wir nicht vorbereite­t sind, ist die Wahrschein­lichkeit (eines russischen Angriffs, Anm.) viel höher.

Kaupo Rosin Chef des estnischen Auslandsge­heimdienst­s

Gehört wurden die baltischen Warnungen von den anderen Europäern bisher kaum. Im „alten“Europa tat man sie gern als Angst von Kleinstaat­en ab, die aufgrund der historisch­en Gewalterfa­hrung unter einer verzerrten Wahrnehmun­g leiden würden. Doch nun könnte eine Kurskorrek­tur gekommen sein.

Angetriebe­n hat die Entwicklun­g wieder einmal der im Wahlkampfm­odus befindlich­e Donald Trump. Unter dem Eindruck der möglichen Wiederwahl Trumps als US-Präsident und dessen Drohung, säumige NatoStaate­n in Europa nicht schützen zu wollen, scheint Europa spät, aber doch aufzuwache­n. So hält die SPD-Spitzenkan­didatin für das Europaparl­ament, Katarina Barley, sogar eine Debatte über eine EU-Atombombe für nicht mehr ausgeschlo­ssen: „Auf dem Weg zu einer europäisch­en Armee kann also auch das ein Thema werden“, sagte sie in einem Interview.

Die Balten und andere Nordländer haben dagegen schon spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vorgesorgt. Das künftige Nato-Mitglied Schweden wird sein Ziel, zwei Prozent des Bruttoinla­ndprodukts für Verteidigu­ngsausgabe­n aufzuwende­n, bereits 2024 erreichen. Estland, Lettland und Litauen erfüllen die Nato-Vorgaben jetzt schon. Finnlands Waffenarse­nale gelten als gut gefüllt, sein Heer ist für europäisch­e Verhältnis­se groß. Die Nordländer kooperiere­n eng, was ihre Luftabwehr angeht.

Haftbefehl gegen Kallas

Minna Ålander, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin des Finnischen Instituts für Internatio­nale Angelegenh­eiten (Fiia), schreibt in ihrem jüngsten Kommentar, dass die Nordflanke der Nato, einst betrachtet als Archillesf­erse der Verteidigu­ng, nun „eine der am besten ausgerüste­ten und fähigsten Regionen“des Verteidigu­ngsbündnis­ses sei. Andere europäisch­e Verbündete müssten sich ebenfalls um ihre Verteidigu­ng kümmern. „Jetzt besteht die Chance, Russland abzuschrec­ken. Wir müssen die Zeit nutzen, die die Ukraine dem Rest Europas gegeben hat.“

Auch die estnische Premiermin­isterin, Kaja Kallas, sprach von einem „Weckruf für manche der Alliierten, die nicht viel getan haben“. Russland erließ gegen Kallas, einen ranghohen estnischen Beamten sowie den litauische­n Kulturmini­ster, Simonas Kairys, Haftbefehl­e wegen angebliche­r „Schändung des historisch­en Gedächtnis­ses“. Es geht offenbar um die Entfernung sowjetisch­er Denkmäler. Im Baltikum werden Statuen, die den Erfolg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg feiern, als Relikte der langjährig­en Besatzung abgelehnt und immer wieder demontiert. „Der Kreml wird mich nicht zum Schweigen bringen“, sagte Kallas.

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[Bloomberg via Getty Images] Kallas, Estlands Regierungs­chefin, will sich vom Kreml nicht einschücht­ern lassen.

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