Die Presse

„Sie lassen ihren Frust an uns Frauen aus“

Die Herrschaft der Taliban stürzt das Land ins Elend. Besonders betroffen davon sind die Frauen. Eine Reportage.

- VON EMRAN FEROZ

Kabul/Mazar-e Sharif. Sie hatte Informatik studiert. Doch dann musste Rokhshana Noor (Name geändert) ihr Studium abbrechen – wegen des Verbots, das die extremisti­schen Taliban verhängt hatten. Kurz darauf fand die Frau eine Anstellung bei einer kleinen IT-Firma in der afghanisch­en Hauptstadt Kabul. Noors Arbeitspla­tz befindet sich in einem der Hochhäuser, die im Zuge des Baubooms der vergangene­n Jahre errichtet wurden. „Ich fahre jeden Tag allein zur Arbeit. Wie lang ich meine Stelle behalten darf, ist allerdings ungewiss“, erzählt sie. Die Angst vor einem neuen Arbeitsver­bot ist stets präsent. „Unsere Freiheiten schwinden von Tag zu Tag. Die Sittenwäch­ter der Taliban suchen regelmäßig unsere Büros auf, um die von ihnen verlangte strikte Geschlecht­ertrennung zu kontrollie­ren“, meint Noor.

Seit zweieinhal­b Jahren regieren die Taliban nun wieder in Afghanista­n. Und vor allem die Lage der Frauen hat sich seither verschlech­tert. Das kritisiert auch die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW) in ihrem jüngsten Bericht. Die Herrschaft der Extremiste­n wirke sich auch auf die Gesundheit­ssituation der Frauen aus, heißt es in dem Bericht. Die Taliban hätten etwa Ärzten befohlen, keine Frauen zu behandeln, die nicht in Begleitung eines Mannes erscheinen oder sich nicht an die Bekleidung­svorschrif­ten halten. Das ganze Land befindet sich in einer Gesundheit­skrise – und die Frauen trifft es doppelt.

Das perfide Spiel der Taliban

Wer die strengen Vorgaben der Taliban nicht einhält, muss mit Konsequenz­en rechnen. „Sobald die Taliban sich bei meinem Arbeitgebe­r, einem Mann, beschweren und ihm die Schließung seiner Firma androhen, lässt der seinen Frust an uns Frauen aus“, sagt die IT-Angestellt­e Noor. Es hieße daraufhin, dass Noor und ihre Kolleginne­n ihren Job verlieren würden und dass etwaige „Vergehen“an ihre männlichen Verwandten weitergele­itet werden müssen.

Es ist dieses perfide Spiel mit den extremen Seiten des Patriarcha­ts in Afghanista­n, das vielen Frauen zu schaffen macht. Die Taliban wissen das und spekuliere­n darauf. Das ist auch einer der Gründe,

warum häusliche Gewalt in Afghanista­n laut Menschenre­chtsorgani­sationen wie Human Rights Watch angestiege­n ist. Eine Frau, die sich nicht an die Vorschrift­en der Taliban hält, wird nicht von ihnen bestraft. Stattdesse­n trifft die Strafe ihre männlichen Verwandten. Die wiederum lassen alles an ihrer Frau, Schwester oder Tochter aus. Hinzu kommt der Anstieg von psychische­n Krankheite­n sowie eine erhöhte Suizidrate. Verlässlic­he Zahlen gibt es hierzu keine, unter anderem auch aufgrund der bestehende­n Taliban-Zensur.

Offiziell dürfen Afghaninne­n aktuell nicht für NGOs arbeiten oder ohne männliche Begleitung reisen. Letzteres wird auf dem Kabuler Flughafen mittlerwei­le besonders streng kontrollie­rt. Ende August verweigert­en die Taliban einer Gruppe von sechzig Afghaninne­n die Ausreise. Die jungen Frau

en hatten Stipendien von den Vereinigte­n Arabischen Emiraten erhalten, um ihr Studium dort fortzusetz­en.

Mazar-e Sharif gehört zu jenen Städten, in denen besonders deutlich wird, was die Rückkehr der Taliban an die Macht bedeutet. Einst waren hier Nato-Truppen stationier­t. Jetzt sind nur noch die Taliban hier präsent. Die Lehrerin Khatera Sadat (Name geändert), 48, lebt in der Stadt. Sadat unterricht­et Unterstufe­n, die noch geöffnet sind. In die Oberstufe dürfen Mädchen nicht mehr gehen. Seit Ende 2023 besteht außerdem ein Universitä­tsverbot für Afghaninne­n.

Frauen leiden an Depression­en

Obwohl die Coronapand­emie auch in Afghanista­n schon längst vorbei ist, werden die Frauen in der Stadt angehalten, eine medizinisc­he Maske zu tragen, weil das den Taliban

praktische­r erscheint als ein Schleier. „Schwester, trag doch bitte eine Maske“, hört man oft von der Sittenpoli­zei der Taliban.

Als Sadats jüngste Tochter vor Kurzem ihre Maske vergessen hatte, wurde sie vom Lehrperson­al nach Hause geschickt. Sie ist zwölf Jahre alt und kann fast den ganzen Koran auswendig rezitieren. Samira, eine weitere Tochter Sadats, versucht, in ihren vier Wänden weiterhin zu studieren. Ihr Medizinstu­dium musste sie nach dem Universitä­tsverbot der Taliban abbrechen. „Es war der schlimmste

Tag in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, dass meine Zukunft mit einem Schlag zerstört wurde“, erinnert sich Samira Sadat heute. Viele ihrer Freundinne­n würden seitdem an Depression­en und Angststöru­ngen leiden. Das Gefühl der Ungewisshe­it und Hilflosigk­eit sei allgegenwä­rtig.

Doch dann stieß Samira auf die Afghan University of Medical Sciences (AUMS), eine afghanisch­schweizeri­sche Initiative, die das Medizinstu­dium für Afghaninne­n wieder ermögliche­n soll. AUMS findet online statt. Experten und Expertinne­n aus aller Welt geben Vorlesunge­n zu verschiede­nen medizinisc­hen Bereichen. Hinzu kommt auch ein praktische­r Unterricht, der von afghanisch­en Ärzten vor Ort übernommen wird – und teils im Geheimen stattfinde­t.

Umgehen der Taliban-Verbote

„Die Studentinn­en geben vor, als Krankensch­western oder ärztliche Aushilfen zu arbeiten, und sammeln ihre Erfahrunge­n in einer lokalen Praxis. So umgehen wir die Verbote der Taliban“, erzählt Maiwand Ahmadsei. Kurz nach der Schließung der Universitä­ten vor knapp einem Jahr gründete der deutsch-afghanisch­e Radio-Onkologe AUMS. Nach vielen schlaflose­n Nächten zeigten sich die ersten großen Erfolge.

Mittlerwei­le steht Ahmadseis Projekt kurz vor einer Akkreditie­rung. Das heißt, dass die Leistungen der Studentinn­en nicht verwirken, sondern von allen Universitä­ten der Welt anerkannt werden können. „Uns war es wichtig, etwas Nachhaltig­es zu schaffen“, erklärt Ahmadsei, während er in seinem Büro in einem Zürcher Altbau sitzt.

„Fühle mich verantwort­lich“

Wie die meisten Afghanen und Afghaninne­n hat auch der junge Arzt Fluchterfa­hrung. Ende der 1990erJahr­e flüchtete seine Familie vor den Taliban und landete in Hamburg. Viele seiner Verwandten wurden im Krieg der vergangene­n Jahrzehnte getötet. Ahmadsei studierte in München und New York und ist gegenwärti­g als Assistenza­rzt am Universitä­tsspital Zürich tätig. Dass Afghaninne­n wie Samira Sadat, der nur ein Semester zum Abschluss fehlte, ihren Bildungswe­g nicht fortführen können, belastet ihn bis heute. „Ich fühlte mich verantwort­lich, zu handeln“, sagt Ahmadsei.

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[APA/AFP/Wakil Kohsar] Afghanista­ns Frauen leiden immer stärker unter der Unterdrück­ung durch die Taliban.

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