Der erste Antritt des neuen Kapitäns
Aufsteiger Felix Gall startet in eine richtungsweisende Saison. Mit neuen Freiheiten, neuem Untersatz und viel Verantwortung.
Granada/Wien. Bevor Felix Gall heute erstmals in dieser neuen Saison rennmäßig in die Pedale tritt, gab es da zwei Meldungen in seinem Umfeld, die eine nähere Betrachtung verdienen. Zum einen die vorläufige Suspendierung seines Teamkollegen Franck Bonnamour wegen einer „unerklärlichen Anomalie“im Biologischen Pass, also in jenem medizinischen Athletenprofil, in dem Abweichungen von den Normalwerten auf Doping hindeuten. Zum anderen der Solosieg von Teamkollege Ben O’Connor bei der beachtlich besetzten Vuelta a Murcia vor wenigen Tagen.
Auch ein Felix Gall, RadsportAufsteiger der Vorsaison mit Königsetappensieg und Gesamtrang acht bei der Tour de France, ist also nicht gefeit vor dem Dopingschatten über dem Peloton, der nun seinen Rennstall Decathlon AG2R La Mondiale erreichte – auch wenn die Verdachtsmomente bei Bonnamour, einst als kämpferischster Fahrer der Tour ausgezeichnet, aus einer Zeit stammen, in der er noch nicht für das Gall-Team pedalierte. Und mit Murcia-Sieger O’Connor schläft die Konkurrenz im eigenen Lager ebenfalls nicht. Zur Erinnerung: Gall hatte seinen Freund, einst Vierter der Tour, im Vorjahr in Frankreich düpiert und ihm die Kapitänsrolle abgenommen. Ein Umstand, der ihn beinah dazu veranlasst hatte, hinzuschmeißen. Zu schwer lasteten Druck und Verantwortung auf dem Debütanten, der plötzlich in einem französischen Team bei der Tour um das Gesamtklassement zu fahren hatte.
Alleiniger Anführer
Doch der Status, mit dem Gall nun in die Saison 2024 startet, ist endgültig ein anderer. Der 25-jährige Osttiroler ist in der Teamhierarchie seines Rennstalls ganz oben angelangt, er genießt mehr Freiheiten und als alleiniger Kapitän bei den jeweiligen Rennen auch das nötige Mitspracherecht. „Ich habe mehr Unterstützung und Freiheiten, und wir haben uns einen super Rennkalender überlegt“, erklärt Österreichs Sportler des Jahres. „Ich weiß jetzt, ich bin der Leader bei diesem und diesem Rennen, dafür muss ich bereit sein und bekomme die volle Unterstützung.“
Erster Formcheck
In Südspanien gibt ab heute die AndalusienRundfahrt (14 Uhr, live, Eurosport) erste Aufschlüsse darüber, ob Galls Vorbereitung gefruchtet hat. In den vergangenen sechs
Wochen hat der Kletterspezialist unter anderem in den Höhen der Sierra Nevada ausgiebig an den Grundlagen gearbeitet. „Die Vorbereitung war richtig gut. Von den Werten her passt alles, es war ein guter Winter. Ich bin besser drauf als letztes Jahr um diese Zeit“, berichtet Gall. „Ich habe mich auch im Höhentraining sehr gut gefühlt. Ich bin auf jeden Fall schon sehr fit.“
Bei der Ruta del Sol in Andalusien warten gleich 14.000 Höhenmeter auf 850 Kilometern in fünf Tagen. „Im Grunde sind schon die ersten beiden Tage entscheidend. Es geht den ganzen Tag auf und ab, aber die Schlussanstiege sind nicht superschwer“, erläutert Gall, der sich ein Spitzenergebnis vorgenommen hat. Vor allem aber ist die Vorfreude auf den Rennbetrieb groß, obwohl der Wiedereinstieg jedes Jahr aufs Neue eine Herausforderung darstellt. „Das erste Rennen tut normal schon sehr weh. Man vergisst, wie sehr man sich quälen muss.“Gipfeln soll die Saison freilich im Juli in einer erneut erfolgreichen Tour.
Neue Räder
Galls Team hat mit Decathlon nicht nur einen neuen Namenssponsor, sondern mit den konzerneigenen Rädern von Van Rysel auch neues Material. „Der Umstieg war problemlos. Ich fühle mich sehr wohl auf dem Rad“, sagt Gall, der bereits über 4000 Trainingskilometer auf dem neuen Untersatz aus dem nordfranzösischen Lille in den Beinen hat. Die bisherigen weißbraunen Trikotfarben gehören ebenfalls der Vergangenheit an, man ist jetzt in blau-weiß-schwarzer Bekleidung unterwegs.
Durch die Neuzugänge um Bruno Armirail und Victor Lafay sollte der Teamkader an Qualität zugelegt haben. Auch in anderen Bereichen verspürt Gall frischen Wind. „Ich habe das Gefühl, dass wir andere Möglichkeiten und Ressourcen haben. Auch mit den Tests auf der Bahn, und im Zeitfahren haben wir auch schon etwas gemacht.“
Die Konkurrenz
In Andalusien wird Galls Konkurrenz vom spanischen Youngster Juan Ayuso (Emirates-Rennstall) angeführt. Bahrain Victorious stellt das stärkste Team, schickt mit Jack Haig und Santiago Buitrago zwei Favoriten ins Rennen und hat Damiano Caruso und Wout Poels in der Hinterhand.
Die wirklichen Stars aber sind zeitgleich bei der Algarve-Rundfahrt in Portugal (16 Uhr MESZ, live, Eurosport) im Einsatz, allen voran Remco Evenepoel (Quick Step), Wout van Aert und Sepp Kuss (Visma), Supertalent Isaac del Toro (UAE) und die Ineos-Kapitäne Tom Pidcock und Geraint Thomas. Andalusien-Vorjahressieger Tadej Pogačar und Tour-Champion Jonas Vingegaard sind nicht am Start.
Mit den Kapazundern misst sich Gall erstmals im März bei Paris–Nizza. Danach hat er noch zwei Einwochen-Rundfahrten und zwei Eintagesrennen eingeplant, ehe ab 29. Juni die Tour de France wartet (auf Olympia verzichtet er). Beleg für Galls neuen Einser-Status in seinem französischen Team: MurciaSieger Ben O’Connor ist heuer gar nicht für die Tour vorgesehen. (joe)
‘‘ Ich weiß jetzt, ich bin der Leader und bekomme die volle Unterstützung.
Felix Gall