Timo Boll: Der alte Mann und der Tischtennisball
Der Deutsche, 42, spielt in Busan seine 21. WM – und will China, die Großmacht am Netz, entthronen.
Als der Deutsche Timo Boll 1997 in Manchester zum ersten Mal bei einer Tischtennis-WM aufkreuzte, war Helmut Kohl Bundeskanzler, vom Euro keine Rede und die D-Mark das Zahlungsmittel. Seitdem hat die Menschheit das Smartphone, Internet, Datingportale oder Marsroboter erfunden. Was aber noch immer nicht gefunden worden ist, ist ein Weg, die Übermacht China bei einem Tischtennisturnier zu besiegen, bis auf zwei Ausnahmen: 1997 gewann der Schwede Jan-Ove Waldner, 2003 jubelte Werner Schlager. Ansonst stellt China seit 1995 stets den Champion.
Noch krasser ist der Abstand bei den Frauen: Seit 1979 war nur Südkorea (Hyun Jung-hwa, 1993) einmal Sieger. Boll verlor sechs WMund zwei Olympia-Finali gegen das „Reich der Mitte“. Es beim neunten Versuch zu schaffen ist sein Antrieb, bei der Team-WM ab Freitag in Busan, Südkorea, anzutreten. Es ist im Alter von 42 Jahren und elf Monaten sein 21. WM-Turnier.
Ob Wang Liqin, Wang Hao, Zhang Jike, Ma Long oder Fan Zhendong: Sie waren unschlagbar. Besseres Material, andere Beläge, Bälle, Aufmerksamkeit, Geld, Training: Warum China unschlagbar bleibt, kennt viele Gründe. Was im Basketball Amerikas Olympiateam ist, verkörpern sie mit dem Zelluloidball. Boll: „Im Einzel habe ich gegen Weltmeister Fan Zhendong neunmal in Folge verloren. Und trotzdem gehst du jedes Mal wieder in das Spiel und versuchst, einen Weg oder eine Lösung zu finden.“
Ob eine Trendwende gelingt? Hoffnung macht, dass die Chinesen von vielen Turnieren in verschiedenen Bewerben genervt scheinen. Und er, mit fast 43, ein bemerkenswertes Comeback hingelegt hat. 2023 fiel er mehrere Monate wegen einer Schulterblessur aus. Im Jänner „platzte dann der Knoten“, Boll gewann den Cup mit Borussia Düsseldorf und das Turnier von Doha. Der viermalige Weltranglisten-Erste schlug reihenweise Top-15-Spieler wie Lin Yun-ju (Taiwan), Tomokazu Harimoto (Japan) und Darko Jorgić (Slowenien), einige von ihnen mehr als 20 Jahre jünger als er.
Schlägt er in Paris auf?
Bei Olympia ist die Übermacht ebenso erdrückend: Seit 1988 und der Einführung des Damen-Einzels gibt es ausnahmslos nur Olympionikinnen aus China. Das Gleiche gilt für den Teambewerb (seit 2008), bei den Männern hält die Serie seit 2008. Einzige Ausnahme: Im Mixed jubelte 2020 in Tokio Japan.
Angst vor dem Rücktritt habe er keine, aufhören hätte er oft können. Aber Boll spielt weiter. Sein Wunsch für die vielleicht letzte Saison? WM-Gold und in Paris zum siebenten Mal bei Olympia spielen, wenn er es ins Dreier-Aufgebot schafft. Weil er nur gewinnen will, stellte er klar, nicht als Ersatzmann nach Paris mitzufahren. Dieser Platz wäre für einen jüngeren Spieler besser, der Erfahrung wegen. Der kann dann von sich sagen, dass Olaf Scholz Bundeskanzler war. Ob er 21 Jahre später noch am Tisch stehen wird wie Boll? (fin)