„Schauerlich, was in Köpfen spukt“
Barbara Wurm, Wiener Expertin für Osteuropas Kino, leitet heuer erstmals das Berlinale-Forum. Warum es für sie „ausgeschlossen“ist, russisch geförderte Filme zu zeigen.
Sie leiten das Forum der Berlinale seit August 2023. Wurden Sie angefragt oder wollten Sie den Job selbst?
Barbara Wurm: Ich habe nicht zweimal überlegt, ob ich mich bewerben soll.
Die „Forum“-Sektion hat eine reiche Geschichte, gilt als Avantgarde, aber auch als akademisch. Was ist Ihr Zugang dazu?
Um das Forum ranken sich viele Legenden. Natürlich sehe ich mich in der Tradition seines oft wegweisenden Programms, ästhetisch wie politisch. Damit meine ich nicht nur explizit aktivistisches Kino. Ich will auch das Populäre umarmen, so gut es geht. Auch Genrefilme. Zudem zeigen wir diesmal viele Biopics über ungewöhnliche Helden, von Maria Lassnig bis Frantz Fanon.
Sie sind Expertin für das Kino Osteuropas, haben zum Sowjetfilm geforscht und die Berlinale u. a. auch bei der Auswahl künstlerisch anspruchsvoller und kritischer russischer Filme beraten. 2022, ganz kurz vor der Invasion der Ukraine, liefen noch vom russischen Kulturministerium geförderte Produktionen im Berlinale-Programm. War das rückblickend ein Fehler?
Ich sehe das nicht als Fehler, aber doch als möglicherweise zu unreflektiert im Hinblick auf das Ausleuchten des Finanzierungs- und Entstehungshintergrunds. Auch bei mir war das Öffnen der Augen, was Russlands Kultur-, Medien- und Außenpolitik betrifft, ein Prozess. Es gibt im Übrigen nach wie vor
Festivals, die Produktionen des russischen Kulturministeriums zeigen. Das Forum nicht: Was das angeht, gelte ich in meinem Feld inzwischen eher als Hardlinerin. Ich sehe das nicht als Boykottpolitik, sondern als sensibles Programmieren nach moralischpolitischen Kriterien. Es geht nicht um Reisepässe, sondern um Finanzierungsstrukturen.
Was meinen Sie damit?
Als Kennerin der russischen Situation ist es für mich völlig ausgeschlossen, dem dortigen Kulturministerium Produktionen abzunehmen, weil es das in jeder Weise als Sieg feiern würde. Die russische Filmszene wird von ihrem teils aufgezwungenen Feigenblattdasein aufgefressen. Die letzten 20 Jahre der „liberalen“Kulturpolitik Russlands sind dafür verwendet worden, sich Künstler in Hofnähe zu halten – sei es freiwillig oder durch Druck –, um das Image einer offenen und kritischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Von diesen Kunstschaffenden wird nun jeden Tag einer mehr eingebuchtet, kriminalisiert oder verfolgt. Es ist unglaublich, bei diesem inneren Zerfall zuzusehen. Dabei können die kritischen Stimmen nichts dafür, dass sie instrumentalisiert wurden. Aber das oppositionelle Feld hat sich spätestens nach der Krim-Annexion 2014 auseinanderdividiert, und heute ist jede Idee von Kritik „im System“illusionär. Persönlich kenne ich inzwischen fast nur Leute, die emigriert sind.
Werden Sie deren Exil-Projekte zeigen?
Natürlich brauchen die echten Dissidenten
Unterstützung. Wir sichten ihre Filme und wägen genau ab. Dieses Jahr haben wir uns für zwei ukrainische Produktionen entschieden, bei denen für uns klar war, dass wir sie unbedingt zeigen müssen.
Worum geht es in diesen Filmen?
„Intercepted“von Oksana Karpovych zeigt von der ukrainischen Armee rückeroberte Gebiete, in denen wieder Leben Einzug hält. Auf der Tonebene hört man vom ukrainischen Geheimdienst abgehörte Telefongespräche russischer Soldaten mit Müttern, Freundinnen, Frauen im „Heimatland“. Sie beschreiben, was sie sehen und tun, auch Kriegsverbrechen. Schauerlich, was da ideologisch in den Köpfen spukt, nicht nur auf Putins Geheiß. Bei „Redaktsiya“handelt es sich um einen Spielfilm, der vor der Invasion gedreht und danach fertiggestellt wurde.
Ist herkömmliche Spielfilmproduktion in der Ukraine überhaupt noch möglich?
„Redaktsiya“ist hierfür ein gutes Beispiel. Es gibt viele Probleme. Die Filmszene lebt weitgehend in der Diaspora. Filmteams kommunizieren oft per Zoom, müssen für Sitzungen erstmal eine gemeinsame Zeitzone finden. Manche pendeln in die Ukraine zurück und dann wieder raus. Andere ziehen es vor, sich nicht in Gefahr zu begeben, Kiew wird im Moment täglich angegriffen. All das vergisst man als Außenstehende schnell: Diese Leute leben immer noch im Kriegszustand. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Festivals ist, das aufzuzeigen und in Erinnerung zu rufen.
Und wie sieht es mit den kulturpolitischen Strukturen in der Ukraine aus?
Der post-sowjetische Filz ist ein Hindernis. In der Ukraine sitzen immer noch viele Menschen in leitenden Kulturpositionen, die eigentlich nicht dort sitzen sollten. Sie sind nicht qualifiziert, wurden aber mit Oligarchenhilfe in ihre Posten gehievt. Die eigentlichen Experten – FilmemacherInnen, ProduzentInnen, WissenschaftlerInnen – werden außen vor gehalten. Das sieht man etwa am Konflikt rund um die umstrittene Umstrukturierung des filmhistorisch bedeutsamen Dovzhenko-Centers in Kiew. Dem steht ein langsamer Demokratisierungsprozess entgegen, der während eines Kriegs passiert; das ist doppelt und dreifach schwer. „Redaktsiya“spricht das ehrlich an: Der Film ist eine Satire, der den regionalen ukrainischen Realitäten sehr kritisch gegenübersteht.