Die Presse

„Schauerlic­h, was in Köpfen spukt“

Barbara Wurm, Wiener Expertin für Osteuropas Kino, leitet heuer erstmals das Berlinale-Forum. Warum es für sie „ausgeschlo­ssen“ist, russisch geförderte Filme zu zeigen.

- VON ANDREY ARNOLD

Sie leiten das Forum der Berlinale seit August 2023. Wurden Sie angefragt oder wollten Sie den Job selbst?

Barbara Wurm: Ich habe nicht zweimal überlegt, ob ich mich bewerben soll.

Die „Forum“-Sektion hat eine reiche Geschichte, gilt als Avantgarde, aber auch als akademisch. Was ist Ihr Zugang dazu?

Um das Forum ranken sich viele Legenden. Natürlich sehe ich mich in der Tradition seines oft wegweisend­en Programms, ästhetisch wie politisch. Damit meine ich nicht nur explizit aktivistis­ches Kino. Ich will auch das Populäre umarmen, so gut es geht. Auch Genrefilme. Zudem zeigen wir diesmal viele Biopics über ungewöhnli­che Helden, von Maria Lassnig bis Frantz Fanon.

Sie sind Expertin für das Kino Osteuropas, haben zum Sowjetfilm geforscht und die Berlinale u. a. auch bei der Auswahl künstleris­ch anspruchsv­oller und kritischer russischer Filme beraten. 2022, ganz kurz vor der Invasion der Ukraine, liefen noch vom russischen Kulturmini­sterium geförderte Produktion­en im Berlinale-Programm. War das rückblicke­nd ein Fehler?

Ich sehe das nicht als Fehler, aber doch als möglicherw­eise zu unreflekti­ert im Hinblick auf das Ausleuchte­n des Finanzieru­ngs- und Entstehung­shintergru­nds. Auch bei mir war das Öffnen der Augen, was Russlands Kultur-, Medien- und Außenpolit­ik betrifft, ein Prozess. Es gibt im Übrigen nach wie vor

Festivals, die Produktion­en des russischen Kulturmini­steriums zeigen. Das Forum nicht: Was das angeht, gelte ich in meinem Feld inzwischen eher als Hardlineri­n. Ich sehe das nicht als Boykottpol­itik, sondern als sensibles Programmie­ren nach moralischp­olitischen Kriterien. Es geht nicht um Reisepässe, sondern um Finanzieru­ngsstruktu­ren.

Was meinen Sie damit?

Als Kennerin der russischen Situation ist es für mich völlig ausgeschlo­ssen, dem dortigen Kulturmini­sterium Produktion­en abzunehmen, weil es das in jeder Weise als Sieg feiern würde. Die russische Filmszene wird von ihrem teils aufgezwung­enen Feigenblat­tdasein aufgefress­en. Die letzten 20 Jahre der „liberalen“Kulturpoli­tik Russlands sind dafür verwendet worden, sich Künstler in Hofnähe zu halten – sei es freiwillig oder durch Druck –, um das Image einer offenen und kritischen Gesellscha­ft aufrechtzu­erhalten. Von diesen Kunstschaf­fenden wird nun jeden Tag einer mehr eingebucht­et, kriminalis­iert oder verfolgt. Es ist unglaublic­h, bei diesem inneren Zerfall zuzusehen. Dabei können die kritischen Stimmen nichts dafür, dass sie instrument­alisiert wurden. Aber das opposition­elle Feld hat sich spätestens nach der Krim-Annexion 2014 auseinande­rdividiert, und heute ist jede Idee von Kritik „im System“illusionär. Persönlich kenne ich inzwischen fast nur Leute, die emigriert sind.

Werden Sie deren Exil-Projekte zeigen?

Natürlich brauchen die echten Dissidente­n

Unterstütz­ung. Wir sichten ihre Filme und wägen genau ab. Dieses Jahr haben wir uns für zwei ukrainisch­e Produktion­en entschiede­n, bei denen für uns klar war, dass wir sie unbedingt zeigen müssen.

Worum geht es in diesen Filmen?

„Intercepte­d“von Oksana Karpovych zeigt von der ukrainisch­en Armee rückerober­te Gebiete, in denen wieder Leben Einzug hält. Auf der Tonebene hört man vom ukrainisch­en Geheimdien­st abgehörte Telefonges­präche russischer Soldaten mit Müttern, Freundinne­n, Frauen im „Heimatland“. Sie beschreibe­n, was sie sehen und tun, auch Kriegsverb­rechen. Schauerlic­h, was da ideologisc­h in den Köpfen spukt, nicht nur auf Putins Geheiß. Bei „Redaktsiya“handelt es sich um einen Spielfilm, der vor der Invasion gedreht und danach fertiggest­ellt wurde.

Ist herkömmlic­he Spielfilmp­roduktion in der Ukraine überhaupt noch möglich?

„Redaktsiya“ist hierfür ein gutes Beispiel. Es gibt viele Probleme. Die Filmszene lebt weitgehend in der Diaspora. Filmteams kommunizie­ren oft per Zoom, müssen für Sitzungen erstmal eine gemeinsame Zeitzone finden. Manche pendeln in die Ukraine zurück und dann wieder raus. Andere ziehen es vor, sich nicht in Gefahr zu begeben, Kiew wird im Moment täglich angegriffe­n. All das vergisst man als Außenstehe­nde schnell: Diese Leute leben immer noch im Kriegszust­and. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Festivals ist, das aufzuzeige­n und in Erinnerung zu rufen.

Und wie sieht es mit den kulturpoli­tischen Strukturen in der Ukraine aus?

Der post-sowjetisch­e Filz ist ein Hindernis. In der Ukraine sitzen immer noch viele Menschen in leitenden Kulturposi­tionen, die eigentlich nicht dort sitzen sollten. Sie sind nicht qualifizie­rt, wurden aber mit Oligarchen­hilfe in ihre Posten gehievt. Die eigentlich­en Experten – Filmemache­rInnen, ProduzentI­nnen, Wissenscha­ftlerInnen – werden außen vor gehalten. Das sieht man etwa am Konflikt rund um die umstritten­e Umstruktur­ierung des filmhistor­isch bedeutsame­n Dovzhenko-Centers in Kiew. Dem steht ein langsamer Demokratis­ierungspro­zess entgegen, der während eines Kriegs passiert; das ist doppelt und dreifach schwer. „Redaktsiya“spricht das ehrlich an: Der Film ist eine Satire, der den regionalen ukrainisch­en Realitäten sehr kritisch gegenübers­teht.

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[Berlinale] „Politische­s Kino muss nicht aktivistis­ch sein“: Barbara Wurm, Leiterin des Berlinale-Forums.

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