Die Presse

Europa braucht Ideen statt Polemik

Replik. Die EU auf bürokratis­che Spitzfindi­gkeiten zu reduzieren ist ein Trugschlus­s.

- VON PAUL SCHMIDT Paul Schmidt (*1975) ist Generalsek­retär der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik (ÖGfE).

In seiner Rubrik „Schellhorn am Samstag“(„Die Presse“, 3. Februar 2024) kritisiert der Autor vermeintli­che Regelungsw­ut und übertriebe­nes Klein-Klein der EU, während wirkliche Herausford­erungen wie Verteidigu­ngsfähigke­it oder Schutz der Außengrenz­en unter den Tisch fallen würden, was der Zustimmung zur Union wenig zuträglich sei und in einem Rechtsruck bei den Europawahl­en enden könnte.

Kritik ist stets berechtigt. Doch sie allein hilft wenig und ist in diesem Fall alles andere als fair. Die EU auf bürokratis­che Spitzfindi­gkeiten zu reduzieren und das vermeintli­ch Kleine gegen das große Ganze aufzurechn­en, ist ein Trugschlus­s. Gerade in Anbetracht der letzten Krisen – von der Covid-Pandemie bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine – hat die Union sehr wohl konsequent gehandelt, sich klar positionie­rt und massiv unterstütz­t, um die Nachwirkun­gen abzufedern und Abhängigke­iten schrittwei­se zu reduzieren. Diesem Ziel dient auch der European Green Deal, der angesichts des Klimawande­ls nicht nur eine dringende Notwendigk­eit ist, sondern auch neue Chancen bietet, im globalen Wettbewerb vorn mitzuspiel­en.

Es ist eben nicht „die EU“

Schellhorn bemängelt, nicht zu Unrecht, die Verteidigu­ngsfähigke­it der EU. Genauso gut ließe sich aber erwähnen, dass sich aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine zuletzt in diesem Bereich mehr getan hat als in den Jahrzehnte­n davor: Allein im Jahr 2022 haben sich die Verteidigu­ngsausgabe­n der EU-Mitglieder um 240 Milliarden Euro erhöht, der Europäisch­e Verteidigu­ngsfonds wurde massiv aufgestock­t, EU und Mitgliedsl­änder haben der Ukraine bis dato militärisc­he Ausrüstung in der Größenordn­ung von 28 Milliarden Euro finanziert. Jüngst hat Binnenmark­tkommissar Breton einen 100 Milliarden Euro schweren Fonds zur Stärkung der europäisch­en Verteidigu­ngsindustr­ie vorgeschla­gen.

Auch scheint es ein schwer zu unterdrück­ender Reflex zu sein, bei Kritik an europäisch­en Entscheidu­ngen sofort und immer „die EU“zu nennen. Es ist aber eben nicht „die EU“, die über unsere Köpfe hinweg entscheide­t. Kein Beschluss wird ohne die Mitgliedsl­änder, und so auch Österreich, getroffen. Das ist auch der Grund dafür, dass sich eine befriedige­nde Lösung bei Asyl und Migration sowie dem Außengrenz­schutz derart gezogen hat. Es ist auch nicht so, dass unreglemen­tierte Zuwanderun­g toleriert wird und dass jeder, „der meint, dass die Sicherheit der Grenzen der Grund für die Existenz von Staaten ist, als rechtsradi­kal gilt“, wie Schellhorn anmerkt. Der frisch aus der Taufe gehobene Asyl- und Migrations­pakt stellt explizit den Schutz der Außengrenz­en in den Mittelpunk­t und wurde von allen 27 Mitgliedst­aaten gemeinsam beschlosse­n – wobei wohl niemand in dieser Runde in Verdacht steht, rechtsradi­kal zu sein. Am EU-Sondergipf­el im Februar wurden übrigens auch zusätzlich­e zwei Milliarden Euro für Migrations- und Grenzmanag­ement vereinbart. Vielmehr sind es nationale Eigeninter­essen, die allzu oft gemeinscha­ftliche Lösungen verhindern. Dabei tun sich gerade jene besonders hervor, die kein Interesse an einem starken Europa haben, sondern sich ein Zurück zu mehr nationalst­aatlichen Lösungen wünschen – sprich: zum gern kritisiert­en Klein-Klein.

Damit die EU-Wahlen nicht zu einem massiven Plus für Europaskep­tiker führen, sollte man Polemik und inhaltlich­er Verkürzung Ideen entgegense­tzen, die uns voranbring­en. Eben jenen seine Stimme geben, die diese im EU-Parlament auch einbringen, und nicht jenen, die sich durch Neinsagen auszeichne­n. Nicht alles ist schwarz oder weiß. Aber die großen Fragen stehen ganz oben auf der europäisch­en Prioritäte­nliste. Wer dies nicht sehen will, nimmt die Realität nicht ausreichen­d zur Kenntnis.

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