Indiens Bauern rufen zu Marsch auf Delhi auf
Tausende indische Landwirte ziehen mit ihren Traktoren Richtung Hauptstadt. Sie fordern Mindestpreise für ihre Produkte. Die Polizei geht mit Tränengas und Wasserwerfern gegen sie vor.
Am zweiten Tag der Großproteste sind Indiens Bauern besser gewappnet. Gegen Drohnen, die Tränengas abwerfen, lassen sie Drachen steigen. Tausende Landwirte, vor allem aus den nördlichen Staaten Punjab und Haryana, zogen Anfang der Woche mit Traktoren in Richtung Delhi. Gespräche zwischen Bauerngewerkschaften und der Regierung waren zuvor gescheitert. So riefen zahlreiche Verbände zum „Marsch auf Delhi“(„Dilli Chalo“) auf. Kilometerlang stauen sich nun ihre Kolonnen an den Grenzübergängen zwischen indischen Bundesstaaten. Zwischen den riesigen Reifen schlafen die Landwirte nachts. Andere versuchten, ihr Ziel per Zug zu erreichen, doch sie wurden auf dem Weg festgenommen.
Die Regierung hat mehrreihige Straßenbarrikaden aus Beton und Stacheldraht in Delhi errichtet. Polizei und Paramilitärs sind im Einsatz, die Hauptstadtgrenzen Singhu, Tikri und Ghazipur zu sichern. Auch 200 Kilometer von Delhi entfernt, in Shambu an der Grenze zwischen Indiens „Brotkorbstaaten“Punjab und Haryana, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Beamten gingen gegen die Landwirte vor, setzten Schlagstöcke, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein. Hunderte wurden bisher verletzt. Rund 10.000 Demonstranten sollen sich dort derzeit aufhalten. Das Chaos wirkte sich bis nach Delhi aus, wo es zu massiven Verkehrsstaus kommt und Pendler feststecken.
Verzweifelte Bauern vernichten Ernte
Die Hauptforderungen der Bauern, die sie in Delhi vorbringen wollen, sind ein gesetzlich verankerter Mindestpreis für rund 20 landwirtschaftliche Produkte, der Erlass von Krediten sowie die Einstellung der Verfahren ge
gen Teilnehmer der Demonstrationen von 2020/2021. Der aktuelle Aufmarsch erinnert an die großen Bauernproteste vor mehr als drei Jahren (zu denen sich auch Popstar Rihanna zu Wort gemeldet und damit den Zorn der indischen Regierung auf sich gezogen hatte). Nun formiert sich an denselben Orten erneut Widerstand.
Damals gelang es nach Monaten der Belagerung in Zelten, umstrittene Agrargesetze zu verhindern. Allerdings blieben die Probleme in der indischen Landwirtschaft. Dabei erbringt sie fast ein Fünftel der Wirtschaftsleistung des Landes, rund zwei Drittel der in
dischen Bevölkerung leben davon. Doch die Bauern kämpfen gegen klimabedingte Ernteausfälle, gegen Inflation, Preisschwankungen und schlecht ausgebaute Lagermöglichkeiten.
Landwirtschaftsminister Arjun Munda (BJP) versicherte, die Regierung sei zu weiteren Gesprächen bereit und forderte die Bauern auf, sich „aus der Politik“herauszuhalten. „Wir haben versucht, eine Lösung zu finden“, sagte Gewerkschaftsführer Sarwan Singh Pandher. Da die Regierung noch immer kein Angebot im Interesse der Landwirte gemacht habe, werde der Protest weitergehen, kündigte er an. Pandher verurteilte das harte Vorgehen gegen die Bauern. „Wir können unsere Landwirte nicht wie Kriminelle behandeln, wir müssen miteinander reden und Lösungen finden“, mahnte ebenfalls die indische Ökonomin Madhura Swaminathan.
Zuletzt tauchten in den sozialen Medien wieder Videos auf, die zeigen, wie verzweifelte Bauern ihre Ernte vernichten, weil sie auf dem Markt nur wenige Cent pro Kilo bekommen. Nachfrage und Preise schwanken in Indien immer wieder und führen regelmäßig zu Exportverboten und kleinen Protesten.
Aufmarsch bringt Modi in Bedrängnis
Die aktuellen Aufmärsche haben jedoch das Potenzial, Premierminister Narendra Modi (BJP) in Bedrängnis zu bringen. Der 73-jährige Hardliner strebt im Frühjahr seine dritte Amtszeit an. Modi und seine hindu-nationalistische Volkspartei sind bereits im Wahlkampfmodus, der Premier tourt von der Eröffnung eines Infrastrukturprojekts zum nächsten. Nach der Eröffnung eines Großtempels in Nordindien war Modi am Mittwoch bei der Einweihung eines weiteren Tempels dabei: In Abu Dhabi wurde der erste Hindu-Tempel eröffnet. Von dieser Geste werden sich die aufgebrachten Landwirte wohl nicht besänftigen lassen. Sie sind dabei, wie schon 2020, ihre Zelte aufzuschlagen.
Und sie stellen eine durchaus einflussreiche Wählergruppe dar. Die oppositionelle Kongresspartei nutzte die Chance und kündigte an, einen Mindestpreis für landwirtschaftliche Produkte einzuführen, wenn sie an die Regierung komme. Auch in Modis Partei teilen nicht alle die kalte Haltung gegenüber den Bauern: Wenn die Regierung nicht auf die Forderungen der Landwirte eingehe, dürfe sie nicht erwarten, dass es lang ruhig bleibt, äußerte sich der 84-jährige Modi-Parteifreund Subramanian Swamy.