Die Presse

Indiens Bauern rufen zu Marsch auf Delhi auf

Tausende indische Landwirte ziehen mit ihren Traktoren Richtung Hauptstadt. Sie fordern Mindestpre­ise für ihre Produkte. Die Polizei geht mit Tränengas und Wasserwerf­ern gegen sie vor.

- Von unserer Korrespond­entin NATALIE MAYROTH

Am zweiten Tag der Großprotes­te sind Indiens Bauern besser gewappnet. Gegen Drohnen, die Tränengas abwerfen, lassen sie Drachen steigen. Tausende Landwirte, vor allem aus den nördlichen Staaten Punjab und Haryana, zogen Anfang der Woche mit Traktoren in Richtung Delhi. Gespräche zwischen Bauerngewe­rkschaften und der Regierung waren zuvor gescheiter­t. So riefen zahlreiche Verbände zum „Marsch auf Delhi“(„Dilli Chalo“) auf. Kilometerl­ang stauen sich nun ihre Kolonnen an den Grenzüberg­ängen zwischen indischen Bundesstaa­ten. Zwischen den riesigen Reifen schlafen die Landwirte nachts. Andere versuchten, ihr Ziel per Zug zu erreichen, doch sie wurden auf dem Weg festgenomm­en.

Die Regierung hat mehrreihig­e Straßenbar­rikaden aus Beton und Stacheldra­ht in Delhi errichtet. Polizei und Paramilitä­rs sind im Einsatz, die Hauptstadt­grenzen Singhu, Tikri und Ghazipur zu sichern. Auch 200 Kilometer von Delhi entfernt, in Shambu an der Grenze zwischen Indiens „Brotkorbst­aaten“Punjab und Haryana, kam es zu gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen. Die Beamten gingen gegen die Landwirte vor, setzten Schlagstöc­ke, Gummigesch­osse und Wasserwerf­er ein. Hunderte wurden bisher verletzt. Rund 10.000 Demonstran­ten sollen sich dort derzeit aufhalten. Das Chaos wirkte sich bis nach Delhi aus, wo es zu massiven Verkehrsst­aus kommt und Pendler feststecke­n.

Verzweifel­te Bauern vernichten Ernte

Die Hauptforde­rungen der Bauern, die sie in Delhi vorbringen wollen, sind ein gesetzlich verankerte­r Mindestpre­is für rund 20 landwirtsc­haftliche Produkte, der Erlass von Krediten sowie die Einstellun­g der Verfahren ge

gen Teilnehmer der Demonstrat­ionen von 2020/2021. Der aktuelle Aufmarsch erinnert an die großen Bauernprot­este vor mehr als drei Jahren (zu denen sich auch Popstar Rihanna zu Wort gemeldet und damit den Zorn der indischen Regierung auf sich gezogen hatte). Nun formiert sich an denselben Orten erneut Widerstand.

Damals gelang es nach Monaten der Belagerung in Zelten, umstritten­e Agrargeset­ze zu verhindern. Allerdings blieben die Probleme in der indischen Landwirtsc­haft. Dabei erbringt sie fast ein Fünftel der Wirtschaft­sleistung des Landes, rund zwei Drittel der in

dischen Bevölkerun­g leben davon. Doch die Bauern kämpfen gegen klimabedin­gte Ernteausfä­lle, gegen Inflation, Preisschwa­nkungen und schlecht ausgebaute Lagermögli­chkeiten.

Landwirtsc­haftsminis­ter Arjun Munda (BJP) versichert­e, die Regierung sei zu weiteren Gesprächen bereit und forderte die Bauern auf, sich „aus der Politik“herauszuha­lten. „Wir haben versucht, eine Lösung zu finden“, sagte Gewerkscha­ftsführer Sarwan Singh Pandher. Da die Regierung noch immer kein Angebot im Interesse der Landwirte gemacht habe, werde der Protest weitergehe­n, kündigte er an. Pandher verurteilt­e das harte Vorgehen gegen die Bauern. „Wir können unsere Landwirte nicht wie Kriminelle behandeln, wir müssen miteinande­r reden und Lösungen finden“, mahnte ebenfalls die indische Ökonomin Madhura Swaminatha­n.

Zuletzt tauchten in den sozialen Medien wieder Videos auf, die zeigen, wie verzweifel­te Bauern ihre Ernte vernichten, weil sie auf dem Markt nur wenige Cent pro Kilo bekommen. Nachfrage und Preise schwanken in Indien immer wieder und führen regelmäßig zu Exportverb­oten und kleinen Protesten.

Aufmarsch bringt Modi in Bedrängnis

Die aktuellen Aufmärsche haben jedoch das Potenzial, Premiermin­ister Narendra Modi (BJP) in Bedrängnis zu bringen. Der 73-jährige Hardliner strebt im Frühjahr seine dritte Amtszeit an. Modi und seine hindu-nationalis­tische Volksparte­i sind bereits im Wahlkampfm­odus, der Premier tourt von der Eröffnung eines Infrastruk­turprojekt­s zum nächsten. Nach der Eröffnung eines Großtempel­s in Nordindien war Modi am Mittwoch bei der Einweihung eines weiteren Tempels dabei: In Abu Dhabi wurde der erste Hindu-Tempel eröffnet. Von dieser Geste werden sich die aufgebrach­ten Landwirte wohl nicht besänftige­n lassen. Sie sind dabei, wie schon 2020, ihre Zelte aufzuschla­gen.

Und sie stellen eine durchaus einflussre­iche Wählergrup­pe dar. Die opposition­elle Kongresspa­rtei nutzte die Chance und kündigte an, einen Mindestpre­is für landwirtsc­haftliche Produkte einzuführe­n, wenn sie an die Regierung komme. Auch in Modis Partei teilen nicht alle die kalte Haltung gegenüber den Bauern: Wenn die Regierung nicht auf die Forderunge­n der Landwirte eingehe, dürfe sie nicht erwarten, dass es lang ruhig bleibt, äußerte sich der 84-jährige Modi-Parteifreu­nd Subramania­n Swamy.

 ?? [Narinder Nanu/AFP/APA] ?? Aufgebrach­te Bauern in Amritsar: Die Proteste weiten sich auf zahlreiche Städte aus.
[Narinder Nanu/AFP/APA] Aufgebrach­te Bauern in Amritsar: Die Proteste weiten sich auf zahlreiche Städte aus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria