Die Presse

„Gewalt ist auch in Döbling Realität“

350 Betretungs­verbote werden in Wien monatlich ausgesproc­hen, Tendenz steigend. Wien geht neue Wege und nimmt sich der Hochrisiko­täter gezielt an.

- VON TERESA WIRTH

Die Kurve geht steil nach oben. In den letzten Jahren sind die Zahlen jener Fälle von häuslicher Gewalt, bei denen die Wiener Polizei ein Betretungs- oder Annäherung­sverbot ausgesproc­hen hat, deutlich angestiege­n. 2020 waren es 17,1 pro 10.000 Einwohner, 2021 schon 21,2 und ein Jahr später 21,8 ausgesproc­hene Verbote.

„Das ist nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass mehr Gewalt stattfinde­t. Es zeigt auch, dass die Menschen für das Thema sensibilis­iert sind, dass das Tabu kleiner wird“, sagt Nikolaus Tsekas, Leiter des Bewährungs­hilfe-Vereins Neustart in Wien am Mittwoch bei einer Pressekonf­erenz von Vertreteri­nnen der Wiener Polizei und des Gewaltschu­tzzentrums Wien.

Mehr Sensibilit­ät für Gewaltpräv­ention gibt es auch bei der Wiener Polizei. Dort wurde im Oktober das Opferschut­zzentrum eingericht­et – eine Stelle mit 14 Beamten, die sich der Hochrisiko­fälle unter Gefährdern gezielt annehmen. 350 Betretungs­verbote wurden zuletzt pro Monat ausgesproc­hen, davon waren rund 60 besonders heikle Fälle: Täter, die bei einer routinemäß­igen „Risikochec­kliste“, in der bestimmte Kriterien wie Vorstrafen, gemeinsame Kinder oder Alkoholkon­sum abgefragt würden, auffällig seien, würden einer tiefergehe­nden Analyse unterzogen, schildert Nina Lepuschitz, Leiterin des Opferschut­zzentrums. Dann übernimmt die neue Stelle, die es in dieser Form nur in Wien gibt und als Pilotproje­kt vorerst bis März läuft, den Fall von den Bezirksste­llen der Polizei. „Wir haben eine Strategie, wie man das Gewaltrisi­ko minimieren kann“, so Lepuschitz.

Sechs Stunden Beratung

Zentral sei die Zusammenar­beit mit Gewaltschu­tzzentrum (ehemalige Interventi­onsstelle für Gewalt in der Familie), das Opfer berät, sowie mit dem Verein Neustart. Seit September 2021 führt Neustart in Wien die verpflicht­ende Gewaltpräv­entionsber­atung

durch, die Täter nach einem ausgesproc­henen Betretungs­verbot absolviere­n müssen. Rund 9000 Gefährder wurden seitdem in Wien beraten, 2023 waren es 3774 Personen. Insgesamt sechs Stunden hat Neustart pro Täter Zeit, egal, ob Hochrisiko­fall oder nicht. Es gehe darum, in dieser ersten Phase – das Betretungs­verbot ist meist noch aufrecht – „schnell auf den Punkt zu kommen“, sagt Tsekas. Wenn nötig, gebe es weitere Angebote wie Anti-Gewalt-Trainings, in manchen Fällen würde auch die Justiz intensiver­e Auflagen verhängen.

70 Prozent der Täter melden sich innerhalb der fünftägige­n Frist selbst bei Neustart, 15 Prozent zumindest dann, wenn sie eine Verwaltung­sstrafe und eine behördlich­e Ladung erhalten. 15 Prozent der Täter erscheinen nicht, etwa weil sie Österreich verlassen (müssen), andere tauchen unter. „Ja, das ist potenziell gefährlich“, sagt Tsekas. Diese Fälle würde man sich auch bei den Behörden genauer ansehen, gegebenenf­alls eine Fallkonfer­enz anregen.

Diese Fallkonfer­enzen, nach kurzzeitig­er Abschaffun­g von Opferschut­zeinrichtu­ngen verstärkt eingeforde­rt, fänden bei Härtefälle­n nach wie vor statt, sagt Lepuschitz. Risikoeins­chätzungen würden nun aber ohnehin regelmäßig ausgetausc­ht. „Das ist wichtig, da wir je nach Institutio­n andere Informatio­nen haben“, sagt Nicole Krejci, die Geschäftsf­ührerin des Gewaltschu­tzzentrums. So könne es sein, dass ein Opfer erst im Lauf der Beratung mehr über die Gewaltbezi­ehung erzähle, weswegen man die Gefährdung­ssituation­en immer wieder aktualisie­ren müsse. Wien nehme durch diese intensive Zusammenar­beit eine „Vorreiterr­olle“ein, sagt Tsekas.

Wer sind die Täter?

Die Menschen, die im häuslichen Bereich gewalttäti­g werden, waren laut Daten des Gewaltschu­tzzentrums im Jahr 2022 zu 87,5 Prozent männlich, die Opfer zu 77 Prozent weiblich. „Bei den Hochrisiko­fällen sind 98 Prozent männlich“, sagt Lepuschitz. 44 Prozent der Gefährder sind österreich­ische Staatsbürg­er, 14 Prozent aus der EU oder dem europäisch­en Wirtschaft­sraum (inklusive Island, Norwegen, Liechtenst­ein), 32 Prozent kommen aus Drittstaat­en – weibliche Täterinnen sind etwas häufiger aus Österreich oder der EU. Die meisten Gewalttate­n kommen bei 30- bis 50-jährigen Tätern vor. „Das ist auch meist die Zeit, in der fixe Beziehunge­n eingegange­n werden“, sagt Tsekas. Aber auch der Pensionsei­ntritt sei potenziell gefährlich: „Die plötzliche Nähe, die tägliche Konfrontat­ion mit dem Partner, zu viel Alkohol.“

Tsekas betont: „Gewalt passiert überall, das ist in Ottakring und auch in Döbling Realität. Auch Bildung ist für Opfer kein Schutz und verhindert nicht, dass Gefährder tätig werden.“Die Statistik gibt Tsekas recht, wobei doch Unterschie­de auszumache­n sind: So wurden 2022 in Floridsdor­f, im Verhältnis zu den Einwohnern, deutlich mehr Betretungs­verbote ausgesproc­hen als etwa im siebenten, achten und neunten Bezirk (s. Grafik); der 16. liegt etwa im Wiener Durchschni­tt, der 19. etwas darunter.

‘‘ Wir haben eine Strategie, wie man das Gewaltrisi­ko minimieren kann. Nina Lepuschitz, Leiterin Opferschut­zzentrum

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[APA/APA/Helmut Fohringer]

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