„Sicherheit ist eine Rechenaufgabe“
Toni Giger kennt sich im Weltcup aus. Wie er gegen die dortigen Verletzungen vorgehen will – und warum er sich über die FIS wundert.
Stuhlfelden/Wien. Shiffrin, Kilde, Pinturault, Vlhová, Schwarz und viele mehr: Die Anzahl der aktuell verletzten Ski-Topstars ist einzigartig. Dass es selbst die Besten ihrer Branche in dieser Ballung erwischt, zeugt von einem Trend – und schreit nach einer Trendumkehr. In der leidigen Sicherheitsdebatte im Weltcupzirkus lässt nun einer aufhorchen, der es eigentlich genau wissen muss. Toni Giger, langjähriger ÖSV-Entscheidungsträger und jetziger Mastermind an der Seite von Marcel Hirscher bei Van Deer, legt den Fokus auf Skipiste und Kurssetzung.
„Es geht vor allem darum, das Material weniger aggressiv zu machen. Das wird mit einer Reglementierung desselbigen jedoch nicht gelingen“, hält der 60-Jährige im Gespräch mit der „Presse“fest. Die Vergangenheit habe gezeigt : „Wenn man eine Komponente reglementiert, werden andere umso aggressiver abgestimmt, um das zu kompensieren. Das Gesamtpaket aus Ski, Kante, Bindung und Schuh ist dann nicht mehr harmonisch und erst recht gefährlich.“Könnte vonseiten des Weltverbands FIS jedoch nicht auf diese Gesamtheit parallel Einfluss genommen werden? Eher nicht, meint Giger. Denn zum einen seien manche Faktoren kaum zu reglementieren, und zum anderen würden „Einheitsski“bei Rennen mit unterschiedlicher Pistenbeschaffenheit nicht mehr Sicherheit bringen.
Vielversprechender Ansatz
Viel eher müsse sich weniger aggressives Material im Sinne einer Zeitersparnis der Athleten lohnen. Das heißt, dass es nicht auf eine Kraftübertragung auf den menschlichen Körper ohne möglichst wenig Puffer ankommt. Und dies könne durch gewisse Kurssetzungen und Pistenpräparierungen gesteuert werden. „Hat man starke Kurven im Flachstück, ist aggressiveres Material schneller“, bei nur leicht ausgeprägten Kurven sei es umgekehrt. Baut man dann auch noch kleine Wellen ein, werden noch weniger aggressive Einstellungen von Vorteil sein.“Schlussendlich sei es eine „Rechenaufgabe“, ab wann körperschonende Komponenten zu einer besseren Gesamtzeit führen werden, ist sich Giger sicher.
Wie der studierte Mathematikund Sportlehrer festhält, spreche er trotz seiner 2022 bei Van Deer begonnenen Managementtätigkeit keineswegs aus der Sicht eines Skiherstellers. „Den Gedanken hatte ich schon vor drei Jahren“, versichert er – und führt aus: „Ich habe 20 Jahre lang diese Sicherheitsdebatte im Skiweltcup verfolgt, aus der Sicht der Wissenschaft, der Praxis, der Trainer und der Skifirmen. Für mich ist das jetzt der vielversprechendste Ansatz.“
FIS sorgt für Unverständnis
Bereiche, in denen Reglementierungen sinnvoll wären, gibt es laut Giger sehr wohl. „Protektorsachen muss man verpflichtend machen“, sagt er. Denn das Verwenden dieser würde in der Regel mit Zeitverlust einhergehen. „Es geht um jede Hundertstel. Wenn weniger sicher schneller heißt und die Athleten die freie Wahl haben, dann werden sie auf Protektoren verzichten.“
Erst vor wenigen Wochen verdeutlichte das der Sturz von Aleksander Aamodt Kilde in Wengen. Hätte er einen der zur Verfügung stehenden schnittfesten Unteranzüge getragen, wäre ihm wohl eine schwere Unterschenkelverletzung erspart geblieben. „Mit Karlheinz Waibel (Leiter Wissenschaft und Technologie im Deutschen Skiverband, Anm.) bin ich vor einigen Jahren mit einem Vorschlag an die FIS herangetreten, dass derlei Entscheidungen nicht der Athlet treffen sollte, sondern von oben herab bestimmt werden müssen. Es ist für mich unverständlich, warum das nicht übernommen wurde“, wundert sich Giger. Dass es auch anders geht, zeigt die einst unter Peter Schröcksnadel vorangetriebene Einführung sichererer Helme. Seit dieser haben alle bzw. hat niemand einen aerodynamischen Nachteil.
Aktuell ist weder Van Deer noch er in Gespräche mit der FIS involviert, erklärt Giger. Das sei schon einmal anders gewesen. „Es gab einen Arbeitskreis zum Thema Sicherheit unter Pernilla Wiberg. Da waren neben mir auch auch Leute wie Marco Büchel, Karl Frehsner oder Charly Waibel dabei. Von der FIS war Hannes Trinkl sehr interessiert. Doch dieser Kreis wurde aufgelöst. Als wir uns zum letzten Mal im vergangenen Oktober in Sölden getroffen haben, haben wir uns auch mit FIS-Generalsekretär Michel Vion zusammengesetzt. Danach war klar, dass wir offenbar nicht mehr gewollt sind.“
Seit zwei Jahren gebe es stattdessen die Athlete Health Unit der FIS. „Aber davon höre ich eher weniger“, schüttelt Giger den Kopf.