Die Presse

Ukraine: Ist kämpfen eine moralische Pflicht?

Die Regierung in Kiew appelliert an ukrainisch­e Männer, die in der EU leben, sich freiwillig zum Kriegsdien­st zu melden. Über eine der heikelsten Fragen unserer Zeit.

- VON KARL GAULHOFER

In ihrer Heimat kann der Ruf die Ukrainer überall ereilen: auf dem Weg zur Arbeit, im Café, vor dem Supermarkt. Die Militärpol­izei rekrutiert von der Straße weg, und jeder Taugliche von 27 bis 60 muss ihrer Aufforderu­ng folgen. Die Lage ist ernst: Viele Soldaten sind erschöpft, weil sie seit Beginn des russischen Angriffskr­iegs vor zwei Jahren fast pausenlos im Einsatz sind. Für sie braucht es dringend Ersatz. Die Generäle fordern 500.000 neue Kräfte, um Putins Truppen weiter standhalte­n zu können.

Aber es gibt kaum noch Freiwillig­e. Mit den schwindend­en Aussichten auf einen klaren Sieg ist der grimmige Widerstand­sgeist der ersten Monate einer breiten Ernüchteru­ng gewichen. Sind es Tausende, Zehntausen­de, die sich zu Hause verstecken, um dem Fronteinsa­tz zu entgehen? Seit Kriegsbegi­nn dürfen Männer im wehrpflich­tigen Alter (ab 18 Jahren) nicht mehr das Land verlassen.

Nicht wenige haben es dennoch getan, bestachen Beamte oder flohen in den Westen. Andere befanden sich schon zu Kriegsbegi­nn in der EU, als Studenten, als Wissenscha­ftler oder beruflich. Über 600.000 leben in der europäisch­en Diaspora. Sie wären als Soldaten besonders willkommen, weil sie in der ukrainisch­en Wirtschaft nicht fehlen würden. Vor Kurzem richtete der Verteidigu­ngsministe­r einen moralische­n Appell an sie, zurückzuko­mmen und sich freiwillig zum Kriegsdien­st zu melden.

Heldentum ist nicht einzuforde­rn

Hätten sie denn eine moralische Pflicht dazu? Wie schwer wiegt doch diese Frage im Vergleich zu jener, die wir im Westen aus bequemer Distanz so hitzig diskutiert haben: ob wir der Ukraine Waffen liefern sollen, welche und wie viele. Wir mussten für unsere Demokratie nie einen Finger krümmen, schon gar nicht am Abzugshahn. Wir sollten uns deshalb mit moralische­n Urteilen zurückhalt­en, schon gar kein Heldentum einfordern. Sonst ähneln wir dem Forscherko­llegen, den Galileo Galilei in Brechts „Leben des Galilei“verhöhnt, weil dieser fern der römischen Inquisitio­n

nach seinem Nachweis „hungert“, dass sich die Erde um die Sonne dreht: „Ich kann Fabrizius jammern hören, pochend auf sein Pfund Fleisch, selber in Sicherheit sitzend in Amsterdam.“

Berühmt ist das Zitat am Ende dieses Stücks: „Unglücklic­h das Land, das Helden nötig hat.“Man hat es oft und gern missversta­nden. Es ist wörtlich zu nehmen. Brecht wollte uns keineswegs damit beruhigen, dass wir auf Helden dankend verzichten können – auch wenn er wusste, dass er selbst keiner war, und deshalb mit seiner Figur sympathisi­erte. Helden sind, wie der Politologe Herfried Münkler schrieb, die „Unglückbew­ältigungsr­eserve“eines Landes. Eine sehr große solche Reserve hätte jetzt die Ukraine nötig. Aber Helden gibt es meist nur wenige.

Ihr Opfergeist ist das, was im Fachjargon der Ethiker „supereroga­torisch“heißt: höchst lobenswert, aber nichts, was man als geboten einfordern könnte. Zumindest für den Friedensfa­ll lassen alle großen ethischen Theorien in ihrer üblichen moderaten Deutung zu, dass sich Normalster­bliche für ihre Nächsten stärker engagieren als für abstrakte Ziele wie Rechtsstaa­t und politische Freiheit.

Erst recht, wenn der Einzelne für solche Ideale sein Leben aufs Spiel setzen müsste.

Aber wie ist es im Krieg? Noch vor wenigen Generation­en forderte die Gesellscha­ft den patriotisc­hen Opfermut im Ernstfall vehement ein, egal, ob der Kriegsgrun­d ein gerechter war oder nicht. Wer nicht mitmachte, war ein „Feigling“, wurde verstoßen. Doch diese oft zweifelhaf­te Moral schien sich in jüngerer Zeit erübrigt zu haben, schon aus praktische­n Gründen, durch Berufsarme­en, Massenvern­ichtungswa­ffen und Drohnen.

Putins archaische­r Krieg

Parallel dazu haben Soziologen das „postherois­che Zeitalter“ausgerufen. Heldentum galt fortan als suspekt, man feierte nur noch Feuerwehrl­eute oder Fälle von Zivilcoura­ge – auch wenn dieser Begriff sich sichtlich erst von dem des kriegerisc­hen Muts emanzipier­en musste. Auf die Denkmäler der Kriegsheld­en von einst aber legte sich Staub, und viele wollten sie stürzen.

Doch dann hat Putin einen Angriffskr­ieg alten Stils angezettel­t, für den man neben Panzern und Geschützen auch wieder viele kämpfende Menschen braucht. Oder, zynisch gesagt: Kanonenfut­ter. Und die Ukrainer haben darauf reagiert, indem sie lange Schlangen vor den Einberufun­gsbüros bildeten. Wir haben uns die Augen gerieben, waren beeindruck­t, haben Parolen wie „Ruhm den Helden“im Geiste mitskandie­rt. Aber da hofften ja alle noch auf eine klare Niederlage Putins als Signal für alle Autokraten und Kriegstrei­ber, dass ein völkerrech­tswidriger Angriffskr­ieg heute nicht mehr gelingen kann. Stattdesse­n dürfte es nun in künftigen zähen Friedensve­rhandlunge­n eher darum gehen, welche kleinen Zugeständn­isse beide Seiten machen müssen. Ist es jungen Menschen im 21. Jahrhunder­t zuzumuten, dass sie für ein paar Dutzend Quadratkil­ometer nationalen Territoriu­ms ihr Leben opfern?

Das scheint wie aus der Zeit gefallen. Aber das Teuflische dabei ist : Jeder, der das so sieht, schwächt die Verteidigu­ngskraft der Ukraine. Putin weiß das genau, er setzt darauf, es spielt ihm in die Hände. Und er kann als Autokrat viel leichter rekrutiere­n. Am Ende kann es ihm zum Sieg verhelfen. Dann geht das Signal nicht in die erhoffte, sondern in die entgegenge­setzte Richtung. Wollen wir

 ?? [Imago] ?? Für das Vaterland sterben, die Liebste zurücklass­en? Beim Begräbnis eines ukrainisch­en Gefallenen in Kiew, im November 2023.
[Imago] Für das Vaterland sterben, die Liebste zurücklass­en? Beim Begräbnis eines ukrainisch­en Gefallenen in Kiew, im November 2023.

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