Ukraine: Ist kämpfen eine moralische Pflicht?
Die Regierung in Kiew appelliert an ukrainische Männer, die in der EU leben, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Über eine der heikelsten Fragen unserer Zeit.
In ihrer Heimat kann der Ruf die Ukrainer überall ereilen: auf dem Weg zur Arbeit, im Café, vor dem Supermarkt. Die Militärpolizei rekrutiert von der Straße weg, und jeder Taugliche von 27 bis 60 muss ihrer Aufforderung folgen. Die Lage ist ernst: Viele Soldaten sind erschöpft, weil sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor zwei Jahren fast pausenlos im Einsatz sind. Für sie braucht es dringend Ersatz. Die Generäle fordern 500.000 neue Kräfte, um Putins Truppen weiter standhalten zu können.
Aber es gibt kaum noch Freiwillige. Mit den schwindenden Aussichten auf einen klaren Sieg ist der grimmige Widerstandsgeist der ersten Monate einer breiten Ernüchterung gewichen. Sind es Tausende, Zehntausende, die sich zu Hause verstecken, um dem Fronteinsatz zu entgehen? Seit Kriegsbeginn dürfen Männer im wehrpflichtigen Alter (ab 18 Jahren) nicht mehr das Land verlassen.
Nicht wenige haben es dennoch getan, bestachen Beamte oder flohen in den Westen. Andere befanden sich schon zu Kriegsbeginn in der EU, als Studenten, als Wissenschaftler oder beruflich. Über 600.000 leben in der europäischen Diaspora. Sie wären als Soldaten besonders willkommen, weil sie in der ukrainischen Wirtschaft nicht fehlen würden. Vor Kurzem richtete der Verteidigungsminister einen moralischen Appell an sie, zurückzukommen und sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden.
Heldentum ist nicht einzufordern
Hätten sie denn eine moralische Pflicht dazu? Wie schwer wiegt doch diese Frage im Vergleich zu jener, die wir im Westen aus bequemer Distanz so hitzig diskutiert haben: ob wir der Ukraine Waffen liefern sollen, welche und wie viele. Wir mussten für unsere Demokratie nie einen Finger krümmen, schon gar nicht am Abzugshahn. Wir sollten uns deshalb mit moralischen Urteilen zurückhalten, schon gar kein Heldentum einfordern. Sonst ähneln wir dem Forscherkollegen, den Galileo Galilei in Brechts „Leben des Galilei“verhöhnt, weil dieser fern der römischen Inquisition
nach seinem Nachweis „hungert“, dass sich die Erde um die Sonne dreht: „Ich kann Fabrizius jammern hören, pochend auf sein Pfund Fleisch, selber in Sicherheit sitzend in Amsterdam.“
Berühmt ist das Zitat am Ende dieses Stücks: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“Man hat es oft und gern missverstanden. Es ist wörtlich zu nehmen. Brecht wollte uns keineswegs damit beruhigen, dass wir auf Helden dankend verzichten können – auch wenn er wusste, dass er selbst keiner war, und deshalb mit seiner Figur sympathisierte. Helden sind, wie der Politologe Herfried Münkler schrieb, die „Unglückbewältigungsreserve“eines Landes. Eine sehr große solche Reserve hätte jetzt die Ukraine nötig. Aber Helden gibt es meist nur wenige.
Ihr Opfergeist ist das, was im Fachjargon der Ethiker „supererogatorisch“heißt: höchst lobenswert, aber nichts, was man als geboten einfordern könnte. Zumindest für den Friedensfall lassen alle großen ethischen Theorien in ihrer üblichen moderaten Deutung zu, dass sich Normalsterbliche für ihre Nächsten stärker engagieren als für abstrakte Ziele wie Rechtsstaat und politische Freiheit.
Erst recht, wenn der Einzelne für solche Ideale sein Leben aufs Spiel setzen müsste.
Aber wie ist es im Krieg? Noch vor wenigen Generationen forderte die Gesellschaft den patriotischen Opfermut im Ernstfall vehement ein, egal, ob der Kriegsgrund ein gerechter war oder nicht. Wer nicht mitmachte, war ein „Feigling“, wurde verstoßen. Doch diese oft zweifelhafte Moral schien sich in jüngerer Zeit erübrigt zu haben, schon aus praktischen Gründen, durch Berufsarmeen, Massenvernichtungswaffen und Drohnen.
Putins archaischer Krieg
Parallel dazu haben Soziologen das „postheroische Zeitalter“ausgerufen. Heldentum galt fortan als suspekt, man feierte nur noch Feuerwehrleute oder Fälle von Zivilcourage – auch wenn dieser Begriff sich sichtlich erst von dem des kriegerischen Muts emanzipieren musste. Auf die Denkmäler der Kriegshelden von einst aber legte sich Staub, und viele wollten sie stürzen.
Doch dann hat Putin einen Angriffskrieg alten Stils angezettelt, für den man neben Panzern und Geschützen auch wieder viele kämpfende Menschen braucht. Oder, zynisch gesagt: Kanonenfutter. Und die Ukrainer haben darauf reagiert, indem sie lange Schlangen vor den Einberufungsbüros bildeten. Wir haben uns die Augen gerieben, waren beeindruckt, haben Parolen wie „Ruhm den Helden“im Geiste mitskandiert. Aber da hofften ja alle noch auf eine klare Niederlage Putins als Signal für alle Autokraten und Kriegstreiber, dass ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg heute nicht mehr gelingen kann. Stattdessen dürfte es nun in künftigen zähen Friedensverhandlungen eher darum gehen, welche kleinen Zugeständnisse beide Seiten machen müssen. Ist es jungen Menschen im 21. Jahrhundert zuzumuten, dass sie für ein paar Dutzend Quadratkilometer nationalen Territoriums ihr Leben opfern?
Das scheint wie aus der Zeit gefallen. Aber das Teuflische dabei ist : Jeder, der das so sieht, schwächt die Verteidigungskraft der Ukraine. Putin weiß das genau, er setzt darauf, es spielt ihm in die Hände. Und er kann als Autokrat viel leichter rekrutieren. Am Ende kann es ihm zum Sieg verhelfen. Dann geht das Signal nicht in die erhoffte, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Wollen wir